DDR-Justiz wegen Freiheitsberaubung vor Gericht

■ Prozeß gegen ehemalige DDR-Juristen: Gummiparagraph ermöglichte zunächst Inhaftierung, anschließend wurde der Menschenverkauf in den Westen arrangiert

Magdeburg (taz) – Als sie selbst noch (Un-)Recht sprachen, ließen sie sich nicht soviel Zeit. Bis mindestens Ende Oktober will die Dritte Strafkammer des Magdeburger Landgerichts gegen den ehemaligen Staatsanwalt Frank Groß und den ehemaligen Vorsitzenden des Magdeburger Kreisgerichts Nord, Siegfried Klose, verhandeln. Die Staatsanwaltschaft wirft den beiden Ex-Juristen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung in zahlreichen Fällen vor. Nach Überzeugung von Oberstaatsanwalt Wolfram Klein haben die beiden Angeklagten etliche Ausreisewillige wegen Nichtigkeiten nur deshalb hinter Gitter gebracht, um damit den Freikauf der Inhaftierten durch die Bundesrepublik vorzubereiten. „Ausreisegenehmigung gegen Devisen“, nannte ein Prozeßbeobachter diese Praxis.

Die beiden Angeklagten sind sich keiner Schuld bewußt. In persönlichen Erklärungen verweisen Groß und Klose darauf, daß alle Anklagen und Urteile nach dem damals geltenden DDR-Recht okay gewesen seien. Das mag so sein, wenn man jemanden nach Paragraph 214 des DDR-Strafgesetzbuches anklagte und hinter Gitter brachte. Die „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ ist selbst nach Ansicht eines ehemaligen MfS-Mitarbeiters ein Instrument gewesen, mit dem man im Zweifelsfall jeden DDR-Bürger vor den Kadi und hinter Gitter hätte bringen können. „Auf diesen Paragraphen wurden unsere Untersuchungen konzentriert, wenn wir sonst partout nichts fanden“, sagt der MfS-Mann.

Über ihre persönlichen Erklärungen hinaus verweigern die beiden Angeklagten – im vollen Bewußtsein ihrer Unschuld – jede Aussage zur Sache. Ebenso wie die meisten der bislang geladenen Zeugen. Zumeist ebenfalls ehemalige Juristen, gegen die wegen ähnlicher Vorwürfe ermittelt wird.

Die Anklage wirft den beiden Ex-Juristen insgesamt neun Fälle von Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung vor. „Die Spitze des Eisbergs“, meint Oberstaatsanwalt Wolfram Klein. „Beteiligt waren sie an bis zu 320 Fällen.“ Nach der Sommerpause werden Betroffene in den Zeugenstand treten, aber auch zwei ehemalige Staatssekretäre aus dem damaligen Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Denn eine zentrale Stütze der Anklage ist der Vorwurf, daß die Juristen wußten, daß sie die meisten Ausreisewilligen in den Knast schickten, damit sie später an den Westen verscherbelt werden können. Zu Preisen von zum Schluß bis zu 100.000 Mark pro Nase. Nur deshalb, so Ankläger Klein, seien damals Haftstrafen von fast immer mehr als einem Jahr verhängt worden. So lange habe nämlich die DDR-Bürokratie gebraucht, um einen Freikauf durch die Bundesrepublik vorzubereiten.

Die vor Gericht verhandelten Fälle lagen alle nach 1983. Damit will die Anklage die Rechtssicherheit steigern. Denn damals unterschrieb auch das DDR-Regime die KSZE-Schlußakte von Helsinki, und präsentierte sich damit zumindest nach außen als Rechtsstaat. Ob der Gummiparagraph 214 im DDR-Strafgesetzbuch mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar ist, müssen jetzt die Magdeburger Richter entscheiden. Zu einer Verurteilung wegen „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“ reichte es jedenfalls 1984 schon, daß ein Magdeburger Ehepaar an seiner Wohnungstür einen Reiseprospekt von Neuseeland aufgehängt und darunter mit Lippenstift das Wort „Freiheit“ geschrieben hatte. Die Urteile damals: zwanzig und sechzehn Monate Knast – mit späterer Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung und vorzeitiger Entlassung in die Bundesrepublik. Wie in allen derartigen Prozessen verhandelte die DDR-Justiz geheim. Die Öffentlichkeit wurde ausgeschlossen, die Angeklagten erhielten nicht einmal die Anklageschift. „Aber wir wußten bereits bei unserer Verhaftung, daß der Weg in den Westen in vielen Fällen nur durch das Gefängnis führt“, sagte der einzige bislang als Betroffener vernommene heute dreißigjährige Stefan P. Für ihn und seine Frau führte das Wort „Freiheit“ 1984 tatsächlich in dieselbe – mit dem Umweg über Justiz und Knast.

Ob das Urteil gegen die beiden Ex-Juristen wie vorgesehen, Ende Oktober gesprochen werden kann, ist noch offen. Mit einer Flut von verfahrenstechnischen Spitzfindigkeiten, Aussetzungs- und Einstellungsanträgen sorgen die vier Verteidiger immer wieder für Verzögerungen. Das ist ihr gutes Recht, verbessert aber nicht gerade die Atmosphäre der Verhandlung. Fest steht schon jetzt, Staatsanwaltschaft und Verteidigung fechten einen Grundsatzprozeß aus. Egal wie das Verfahren ausgeht – eine Seite legt auf jeden Fall Revision ein. Eberhard Löblich