„Bedrohungslügen des Westens“

■ Im Wolf-Prozeß funktionieren Ex-Agenten nicht im Sinne der Siegerjustiz

Düsseldorf (taz) – Im abhörsicheren Düsseldorfer Gerichtssaal 01, in dem der Senatsvorsitzende Klaus Wagner schon seit über 10 Jahren eine Vielzahl ehemaliger Ost-Agenten Mores gelehrt hat, haben die Träger der westdeutschen Justiz es noch immer geschafft, zwischen Gut und Böse säuberlich zu trennen: Wer dem Osten Geheimnisse des Westens zutrug, war allemal der verschlagene Lump. Als Held erschien dagegen, wer den Verrat auf der anderen Seite betrieb. Alfred Spuhler, der gestern im Prozeß gegen Markus Wolf als Zeuge gehört wurde, hat beides erlebt: In der DDR mit vielen Verdienstorden geehrt, im Westen 1991 als gemeiner Verräter von Staatsgeheimnissen zu 10 Jahren Haft verurteilt. 17 Jahre lang übermittelte der beim westdeutschen Geheimdienst BND an herausragender Stelle arbeitende Spuhler sein Wissen an jenen Mann, der in Düsseldorf auf der Anklagebank sitzt: Markus Wolf, ehemals Chef der DDR- Auslandsspionage, Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) im Ministerium für Staatssicherheit, hatte in Spuhler einen Agenten als Überzeugungstäter.

„Ab einem bestimmten Zeitpunkt war mir klar“, so erzählt der Mann, der im BND Zugang zur gesamten elektronischen und fernmeldetechnischen Aufklärung des Warschauer Pakts hatte, daß die vom Westen verbreitete Behauptung von der „militärischen Überlegenheit des Ostens, die größte Lüge des Jahrhunderts war.“ Diese Überlegenheit habe es ebensowenig gegeben wie die immer wieder behauptete „Angriffsgefahr“ durch den Osten. Als er diese politische Propaganda, die vor allem die Amerikaner geschürt hätten, durchschaut habe, sei bei ihm der Entschluß gereift, aus „moralischer Pflicht“ dagegen etwas zu unternehmen. Nach zahlreichen „Gesprächen mit der DKP in München“ entschloß sich der heute 52jährige – „ich habe mit dem sozialistischen Gedankengut sympathisiert“ – sich der HVA anzudienen. Zusammen mit seinem als Kurier eingespannten Bruder übermittelte er das brisante Material an Wolfs HVA-Abgesandte. Zwei von ihnen, die HVA-Offiziere Schütt und Böttger wurden zusammen mit den beiden Spuhler-Brüdern 1991 zu Bewährungsstrafen verurteilt. Daß ihr Chef Wolf jetzt auf der Anklagebank sitzt, hat mit einem besonders ausgeprägten Gerechtigkeitsstreben der westdeutschen Justiz wenig, mit Wolfs Aussageverhalten dagegen viel zu tun. Beteiligte sich der oberste Agentenchef – wie von den Bundesanwälten gewünscht – an dem Verrat seiner einstigen Mitarbeiter, sänge er, er säße gewiß auf einer anderen Bank.

Am Ende seiner Aussage ging der in der JVA in Straubing einsitzende Alfred Spuhler, der mit dem Angeklagten während seiner aktiven Zeit einmal persönlich in Berlin zusammentraf, zu Wolf, um ihm per Handschlag „alles Gute“ zu wüschen. Den zusammengepreßten Lippen des Senatsvorsitzenden Klaus Wagner entfuhr ob dieser Verbundenheit ein irritiertes „das ist ja entzückend“. Zuvor hatte Spuhler davon berichtet, bei dem Gespräch mit Wolf intensiv über den Putsch in Chile gesprochen zu haben. Aus einer BND-Analyse habe er seinerzeit vom bevorstehenden Putsch gegen Allende erfahren. Doch bevor die Information über Ostberlin weitergeben werden konnten, sei Allende von „den Killerkommandos der CIA“ umgebracht worden. In Chile gewannen bekanntlich die Guten. Walter Jakobs