Kein hoffnungsloser Fall

■ Gewalt mit 12: "Raymond - der Junge mit dem Engelsgesicht", ARD, 20.15 Uhr

Gewalttaten von Kindern machen Schlagzeilen; Medien und Politiker beklagen die Verrohung der Jugend. Den Journalisten Wilfried Huismann („Monitor“) stört, „daß Kinder oft als kleine Monster dargestellt werden.“ Sein Anliegen: eine „differenzierte Fallstudie“ anstelle von Sensationsmache. Deshalb hat er einen 12jährigen Berliner Jungen portraitiert, der wegen Ladendiebstählen, Einbrüchen und brutalen Angriffen bei Jugendamt und Polizei bereits bestens bekannt ist.

„Raymond – der Junge mit dem Engelsgesicht“ paßt so recht ins Bild eines scheinbar hoffnungslosen Falls: Der Vater – Alkoholiker – prügelte die Mutter, bis sie mit drei Kindern ins Frauenhaus flüchten mußte; beide Elternteile schlugen die Kinder. Längst hat der Vater die Familie im Stich gelassen, und die Mutter ist mit der Erziehung von Raymond, dem Jüngsten, restlos überfordert. Raymonds Bruder (15) hat bereits harte Drogen genommen und lebt in einem Erziehungsheim. Der Lehrer in einer Schule für verhaltensgestörte Jugendliche nennt Raymond „eiskalt“: Wenn es Probleme gebe, reagiere er mit Gewalt. Raymond ist viel allein zuhause, verbringt die Zeit mit Videospielen. Sein Lieblingsfilm heißt „Zombie“, und auf die Frage, ob sein tätlicher Angriff auf eine Frau ihm leid tue, antwortet er: „Nö, uff keene Fälle.“

Huismann, der sagt, er habe in seiner Kindheit selber Gewalt erlebt, gewann Raymonds Vertrauen. Manchmal scheint der Junge sogar Kamera und Mikrophon vergessen zu haben. Dennoch führt der Autor Raymond und die anderen Beteiligten weder vor, noch verharmlost er die Gewalttätigkeit des Kindes. Huismann läßt das Opfer die Tat schildern und zeigt, wie Raymond auf diese Bilder reagiert. Er befragt behutsam die Mutter und läßt die hilflosen Worte eines vom Alkohol gezeichneten Vaters für sich sprechen. Täter oder Opfer? Am Ende erweist sich als vertrackte Geschichte, was anfangs so einfach und klar erschien.

Trotz all der Trostlosigkeit in seinem Umfeld muß Raymond kein hoffnungsloser Fall sein. Huismann zeigt dies am Beispiel seiner älteren Schwester, die den Sprung aus der zerrütteten Familie schaffte und nun in einer vom Jugendamt betreuten Wohngemeinschaft lebt. Sie ist Raymonds größte Vertraute. Und ganz beiläufig erinnert Huismanns Film daran, daß dieses voller Aggressionen steckende „kleine Monster“ auch nur ein Kind ist: Wenn Raymond abends allein zuhause ist, weil seine Mutter noch arbeiten muß, fürchtet sich der sonst mit aller Kraft der gewalttätigen Erwachsenenwelt nacheifernde Junge vor der Dunkelheit und läßt in der ganzen Wohnung das Licht brennen. Thomas Gehringer