Italiens Elite unter Schock

■ Selbstmord des ENI-Chefmanagers in der U-Haft

Rom (taz) – Zwar ist es schon der neunte Selbstmord im Zusammenhang mit der Polit-Säuberungswelle mani pulite, doch diesmal scheint das offizielle Italien ganz besonders betroffen, ja teilweise völlig verstört: am Dienstag war der seit Anfang März im Mailänder Gefängnis San Vittore einsitzende 67jährige ehemalige Chefmanager des staatlichen Energie- und Petroleumkonzerns ENI, Gabriele Cagliari, in der von innen verschlossenen Toilette seiner Zelle mit einer Plastiktüte über dem Kopf aufgefunden worden. In einer ersten Version war von einem Herzversagen, dann von einem möglichen Drittverschulden, schließlich vom Selbstmord die Rede; die Autopsie soll nun klären, was wirklich geschehen ist.

Cagliari war wegen des Verdacht riesiger Schmiergeldzahlungen an verschiedene Parteien festgenommen worden und, weil nicht geständig und in den Augen des Untersuchungsrichters noch immer zur Verdunkelung imstande, auch weiterhin festgehalten worden. Am Dienstagmittag sollte erneut über eine bedingte Haftentlassung (in den Hausarrest) entschieden werden.

Nach ersten Erklärungen seiner Verteidiger hat Cagliari seine Verzweiflungstat begangen, nachdem ein angeblich vorige Woche erteiltes Versprechen auf bedingte Freilassung vom vernehmenden Staatsanwalt Pasquale wieder zurückgemommen worden war. Pasquale leugnet jedoch jede Zusage. Außerdem widersprechen der These einer spontanen Verzweiflungstat mehrere Briefe, die Cagliari bereits vor drei Wochen an seine Angehörigen geschrieben und für den Fall seines Todes in seiner Zelle aufbewahrt hatte: danach hatte er den Gedanken seines Freitodes wohl bereits seit längerem gefaßt – aus „Protest gegen dieses System, das den Menschen in seiner Persönlichkeit zerstört“. Er beschuldigt die Staatsanwälte eines „bürokratischen Mechanismus“, der „den Menschen völlig außer acht läßt, gerade so, als wäre man ein Aktenstück“: „Sie tun nur ihre Pflicht, aber dabei vernichten sie Menschen.“

In der politischen Welt hat die Tat Cagliaris einen wahren Proteststurm gegen die Anti-Korruptionsermittlungen ausgelöst, meist kaschiert in Angriffen auf den „exzessiven Gebrauch der Untersuchungshaft“, die nach Ansicht vieler Abgeordneter und Senatoren „mitunter zum Herauspressen von Geständnissen mißbraucht wird“ – so schon eine Woche vor Cagliaris Tod Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro im Verein mit Justizminister Giovanni Conso.

Obwohl es bisher nicht in einem einzigen Fall zu einer Anzeige wegen Amtsmißbrauchs gegen einen Untersuchungsrichter kam, und die Politiker so den Beweis für ihre Behauptung schuldig blieben, wird nun eine Revision des U-Haft- Rechts trotz der anstehenden Sommerpause noch im Parlament durchgepeitscht. Danach soll nicht mehr in Untersuchungshaft genommen werden können, wer im Falle der Verurteilung mit Bewährung rechnen kann. Das aber heißt, daß nahezu keiner der fast 2.000 Politiker und Unternehmer, die der Korruption beschuldigt werden, mehr in den Knast müßte. Werner Raith