Ambivalentes Treiben in den „ehemaligen Kolonien“

■ In Moskau hat die Diskussion über russische Interessen in Zentralasien gerade erst begonnen / Boris Jelzin als Hardliner / Angst vor einem „zweiten Afghanistan“

„Warum können die Amerikaner in Grenada landen, ihre Landungstruppen nach Panama schicken und Bagdad bombardieren, die Franzosen ihre Bataillone in den Tschad und nach Zaire schicken – wir aber dürfen keinen Präventivschlag gegen jene schwarzen Kräfte führen, die die unseren, die Russen bedrohen ...“, fragt Moskaus Intellektuellenblatt Literaturnaja Gaseta und liefert gleich eine Antwort mit, die der Ambivalenz des russischen Treibens an der tadschikisch-afghanischen Grenze Rechnung trägt: Die USA, Frankreich und andere Länder haben ihre Interessen, und vor allem hegen sie stetige Sorge für das Leben ihrer und sogar Bürger anderer Staaten. „Wir haben das nicht?!“

In der Tat hat sich Rußland um das Wohl seiner Bürger, die in den „ehemaligen Kolonien“, den nunmehr selbständigen ehemaligen Sowjetrepubliken, verblieben sind, bislang wenig gekümmert. Rücksiedler in die Heimat wurden nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wenn Rußland sein Engagement im Konflikt zwischen Afghanistan und Tadschikistan heute mit „Fürsorge“ begründete, ließe sich das zumindest nachvollziehen. Die wahren Beweggründe sind natürlich andere. Die Floskel von der „Furcht vor einem Übergreifen des Bürgerkrieges auf russisches Territorium“ gehört zum Pflichtrepertoire der ewiggestrigen, imperialistischen Kräfte in Moskau. Die Chauvinisten heißen jeden Anlaß willkommen, um eine Intervention Rußlands im ehemaligen Vorhof des Reiches zur Sicherung der Interessensphäre durchzuführen.

Und tatsächlich sind Befürchtungen, ein „islamischer Fundamentalismus“ könnte sich an den „Grenzen Rußlands“ breitmachen, nicht ganz aus der Luft gegriffen. Der Stab der russischen Grenztruppen vertritt die Ansicht, jeder militärische Rückzug bringe die Konflikte näher an das Mutterland heran.

In den letzten Tagen plädierte selbst Boris Jelzin für eine harte Linie gegenüber Afghanistan. Der Präsident scheint in diesem Fall nicht recht zu wissen, wie er sich verhalten soll. Im Streit um die russische Minderheit in Estland zeigte er schon einmal eine ähnliche Hilflosigkeit. Soll er den Hardlinern den Wind aus den Segeln nehmen, indem er selbst martialische Töne anschlägt? Ist es innenpolitisch zuträglich, und braucht er das? Das offizielle Rußland ist sich im gegenwärtigen Konflikt alles andere als einig. Das Sicherheitsministerium unter Viktor Barannikow begründet eventuelle Präventivschläge auf afghanischem Territorium und befürwortet massive Befestigungen an der tadschikisch- afghanischen Grenze. Verteidigungsminister Gratschow tritt in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe auf, als wäre er wieder auf heimischem Boden. Über Gesten der Entschlossenheit gehen sie aber nicht hinaus.

Nüchtern betrachtet das Außenministerium die Vorgänge. Schon lange muß es sich Vorwürfe der Nationalisten und Chauvinisten gefallen lassen, das ehemalige Reich als natürliche russische Einflußsphäre vernachlässigt zu haben. Das Außenministerium bewertet den Krieg in Tadschikistan als das, was er tatsächlich ist: ein Kampf zwischen traditionellen Clans, die sich wie im Falle der Bergregion Badachschan, die nach Autonomie strebt, auch noch einmal nach regionalen Spezifika unterteilen.

Das Außenministerium hat womöglich begriffen. Wenn in Duschanbe sieben Fraktionen in einem Machtvakuum um die Vorherrschaft kämpfen, wird das Vakuum nicht dadurch beseitigt, daß noch eine achte Fraktion hinzutritt, Rußland eben. Davor warnt in Moskau die liberale Presse: „Rußland stürzt sich selbst in einen fremden Konflikt, der sich an den Linien des Afghanistan-Krieges entwickelt“, schrieb die Nesawissimaja Gaseta. Moskaus ehemaliger Bürgermeister und Vorsitzender der Bewegung Demokratisches Rußland, Gawril Popow, lehnt jegliche Einmischung Rußlands in Tadschikistan ab. Sie gefährde die Reformen im eigenen Land. Eine russische Intervention würde in Duschanbe die kommunistische neue alte Führung stützen, die Moskau traditionell freundlich gesinnt ist.

Das Eingreifen in den Bürgerkrieg würde Rußland hohen Blutzoll abverlangen. Die Erinnerung an den Afghanistan-Krieg ist noch wach. Schwerlich ließe sich der Krieg auf Tadschikistan eindämmen, dessen Grenzen von Stalin künstlich geschaffen wurden. Bestimmte Kreise in Moskau hegen so die Hoffnung,wieder zur Vormacht in der zentralasiatischen Region aufzusteigen. Klaus-Helge Donath, Moskau