Rattenkrebs-Reality

■ „Urban Scenes/Creole Dreams“ beim Sommertheater

„Jeder“, sagt die schwarze Großmutter in ihrem Schaukelstuhl auf einer Terrasse tief in den Südstaaten, „jeder muß auf dieser Welt jemanden haben, den er mehr liebt als sich selbst.“ Enkel David hat so jemanden: eine verunstaltete weiße Ratte. Das größte Kindheitsglück, erzählt er, ist die atmende Ratte an seinem Hals. Bis sie spurlos verschwindet. „Rattenkrebs“, erklären die Eltern achselzuckend.

Als Erwachsener definiert David Glück kaum anders, nur daß es heute Geliebte sind, die er an sich geschmiegt in seinen Nacken atmen fühlen will. Diese New Yorker Geschichten enden nicht anders als die Kindergeschichte aus Houston, Texas: Die Geliebten verschwinden, sterben weg wie Kleingetier. Aids heißt der Rattenkrebs der Zeit Urban Scenes/Creole Dreams ist der sechste Teil einer Arbeitsserie des afroamerikanischen Tänzers und Choreographen David Rousseve über Leben und Ausbeutung von Kreolen in Amerika. Der Geschichte seiner Großmutter, die als Baumwollpflückerin auf einer Plantage aufwächst, stellt er Bildern seiner eigenen Entwicklung gegenüber: die Kindheit in Texas, der erste Tag in einer „integrated class“, der Kontakt mit der Schwulenszene, der Eintritt in die Tanzwelt. So wie er die verschiedenen Zeiten verwebt, vermischt er auch Musik und andere Elemente schwarzer Popkultur: Rap, House, Gospel und Breakdance wechseln einander ab. Im Vordergrund steht jedoch stets die Stimme; Rousseve spricht ins Standmikrophon, flüstert ins portable mike oder läßt seine Stimme - mal als die eigene, mal verstellt als die der Großmutter - über Band erschallen. Der Dynamik tut das verheerend Abbruch: ein Tanzabend als Erzählstunde mit bewegten Bildern. Was legitim wäre, würden diese Bilder durch choreographische Phantasie und Imaginativkraft sowie die Tänzer durch Präzision und Können beeindrucken - David Rousseve und seine Reality Company zeigen aber weder das eine noch das andere. Das Bewegungsrepertoire überrascht nie, sondern ist lediglich überraschend klein. Bühnenbild und Ausstattung bieten bisweilen Abwechslung, doch eine zweistündige Choreographie ist in dieser epischen Breite nicht spannend durchzuhalten. Am besten ist die Aufführung da, wo sie am unerträglichsten ist: wenn Rousseve solo mit intimer Personality-Show amüsiert. Eine dicke schwarze gospelsingende Mama habe er eigentlich werden wollen, verrät er — ging nicht, also hat er eine engagiert: BJ Crosby singt umwerfend „Amazing Grace“. Ihr gilt ein Gutteil des Applauses. Christiane Kühl

noch heute, K6, 20 Uhr