Die Kunst der Schuhmacherei

■ In der Bergmannstraße werden Schuhe maßgefertigt

Weil man nicht alles über einen Leisten schlagen soll, hängen in der kleinen „Schuhmacherei“ in der Kreuzberger Bergmannstraße mehr als hundert verschiedene. Viele der Holzklötze in Schuhform tragen den Namen eines Kunden. Wenn dieser Schuhe nachbestellt, muß nicht noch einmal extra Maß genommen werden, denn das ist eine aufwendige Prozedur: Ein Fußabdruck wird gemacht und der Umfang von Ballen, Spann und Ferse gemessen.

„Wir haben einen völlig anachronistischen Beruf“, meint die Schuhmachermeisterin Viola Heussen vergnügt, „aber dafür ist er abwechslungsreich.“ Als Schuhmacherin muß sie nicht nur mit Leder, sondern auch mit Holz, Metall und Kunststoff arbeiten können. Aus Kunststoff bestehen die Modelle, die mit Hilfe des Leistens angefertigt werden, bevor der richtige Schuh geschustert wird.

Neue Schuhe würden allerdings nicht allzu oft bei ihnen bestellt, meint Heussens Kollege Alexander Breitenbach, der das Geschäft vor vier Jahren eröffnet hat: „Wir leben in erster Linie von Reparaturen.“ Ein Paar neuer Schuhe, an dem ein Meister durchschnittlich 30 Stunden lang arbeiten muß, ist nämlich nicht unter 800 Mark zu haben. Ein schlichter Herrenschuh kostet 1.400 Mark, nach oben gibt es für die Preise keine Grenzen. Maßgeschusterte Schuhe bestellen deshalb vor allem Menschen mit ungewöhnlich geformten Füßen, die in industriell gefertigten Schuhen nicht laufen können. „Es kommen aber auch Leute, die ihre Lieblingsschuhe nachgebaut haben wollen, weil sie die nirgendwo mehr finden, oder welche, die eine ungewöhnliche Idee verwirklichen wollen“, erzählt Viola Heussen. Vor ihrer Ausbildung hat sie Graphik studiert, einige ihrer selbst entworfenen Schuhe sind so auch kleine Kunstwerke. Bei einem Paar Stiefeletten beispielsweise gibt das herz- und kreuzförmig durchbrochene Oberleder den Blick auf tiefere Schichten farbigen Leders frei, andere Muster sind aufgenäht, und selbst die Schnürsenkel zeigen Mut zum Ornament.

Auch ganz schlichte Schuhe sind als Einzelpaare extrem aufwendig herzustellen. Zuerst muß das Oberleder, in der Regel Kalbsleder, wie ein kleines Kleidchen genäht werden. Für das Nähverfahren haben die beiden Schuhmacher allein vier verschiedene Nähmaschinen, die Löcher müssen vorher mit einer Ahle – auch hiervon hängen Dutzende in der Werkstatt – gestochen werden. „Das Werkzeug ist zwar sehr teuer“, sagt Breitenbach, „aber im Moment gehen an allen Ecken Schuhmacher pleite und hinterlassen oft kleine Schätze, die wir dann billig bekommen.“

Wenn das Oberleder fertig genäht ist, wird es über den Leisten geschlagen und an die „Brandsohle“ genäht – die so heißt, weil sie später ätzend-brennenden Fußschweiß aufsaugen muß. Daran wird eine weitere Sohle befestigt, schließlich der Absatz, der aus aufeinander geklebten, dicken Lederstücken besteht. Zuletzt glättet der Schuhmacher die Sohle und brennt mit einem Schnitteisen Kanten ein.

Die schönsten Schuhe stehen im Laden in einer Vitrine: weiß-blau- rot gemusterte Halbschuhe und rote Stiefel mit Schleifen und unkonventionellen Ausschnitten. Sie wurden nicht für Kunden, sondern für Ausstellungen entworfen – als Schuhkunst. Miriam Hoffmeyer