■ Die makabre Krankengeschichte des Karl Müller:
: Halsbrechen in Thüringen

Der Traum vom leichten Tod. Wer hat ihn nicht schon geträumt. Auch Karl Müller, 86. Und fast schon schien der alte Mann am Ziel. Er fiel vom Stuhl und brach sich das Genick. Karl Müller aber lebte weiter. Und nun beginnt sie, jene Geschichte, die eigentlich nur im Kopf von Stephen King hätte entstehen können, gleichwohl aber im Nordthüringer Kreiskrankenhaus Artern geschah.

Karl wurde dort eingeliefert und klagte unaufhörlich über grausame Schmerzen im gesamten Gesichts- und Kopfbereich. Jeder Medizinstudent fliegt völlig zu recht durch die Prüfung, wenn er bei solchen Beschwerden nicht auf eine Wirbelsäulenverletzung schließt. Im besagten Kreiskrankenhaus Artern diagnostizierte man lediglich „ein wenig Zucker und einen gerade noch ausgebliebenen Schlaganfall.“

Karl, der wegen der Halswirbelfrakturen und des dadurch attackierten Rückenmarkes nicht eine einzige Bewegung ohne fürchterliche Schmerzen absolvieren konnte, verbrachte die erste seiner Horrornächte nach dem Sturz sitzend im Bett. Am anderen Morgen dann der Tortur nächster Teil. Der Patient, zwar grausam wimmernd, aber erbarmungslos dem Arternschen Reinheitsgebot unterworfen, bekam als Vorbereitung auf das EEG von einer resoluten Schwester gründlichst den Schädel gewaschen. „Das Kopfwaschen war dumm“, gibt der zuständige Oberarzt Dr. Welzel zu. „Aber wenn wir gewußt hätten, daß eine Wirbelsäulenfraktur vorliegt, hätten wir uns anders verhalten.“ Auch die zweite Nacht wurde in sitzender Haltung überstanden.

Warum man ihm die Schmerzen dann nicht genommen hat? Dazu schweigt man im Arternschen Kreiskrankenhaus. Am nächsten Tag hatte der noch immer nicht entsprechend seiner Frakturen ruhiggestellte Patient eigenfüßig die Krankenhaustreppen hinunterzugehen, ein Taxi zu besteigen und 30 km zum EEG zu fahren. Das Resultat: Karl war wirklich bei seinem Sturz einem Schlaganfall entkommen. Aber noch nicht den Händen jener Genies in Weiß. Irgendwann – nach drei Tagen – fiel endlich der Groschen und das arme Genick bekam etwas Halt durch eine Halskrause. Karl, nun wenigstens bekraust nach der dritten durchsessenen Nacht, mußte erneut ins Taxi steigen und wurde, wie immer aufrecht sitzend, zum 20 km entfernten Orthopäden transportiert. Selbiger befand nun endlich auf Fraktur der beiden obersten Halswirbel. Kein Grund freilich auch für diesen Jünger Äskulaps, dem alten Mann zum zweckmäßigen Liegen und einer schmerzbeseitigenden Therapie zu verhelfen. Nein, da Karl bereits drei Tage überlebt hatte und offensichtlich in der Lage war, die Praxis des Orthopäden zu betreten, sah dieser keinen Grund, ihn nicht wieder in die bisherige Therapie zu entlassen.

Der mittlerweile arg strapazierte Karl ging nun wieder, zwar vor Schmerzen weinend, aber wie gehabt aufrechten Ganges ins Auto zurück. Er säße wahrscheinlich noch immer wimmernd in seinem Arternschen Prokrustesbett, wenn er nicht eine Familie hätte, die ihn liebt und die erkannte, daß dem Vater nur noch eines helfen kann: die sofortige Flucht.

Die Medizinische Hochschule Erfurt erklärte sich bereit, Karl Müller sofort aufzunehmen. Die Notruf-Leitstelle Erfurt schlug aufgrund der Schwere der Verletzung und der Schmerzen einen Hubschraubereinsatz vor.

Doch wieder war die Rechnung ohne jene Arternschen Ärzte gemacht. Weil der alte Mann noch nicht genug gelitten und der Flug nur 15 Minuten gedauert hätte, wurde ein Helikoptereinsatz rundweg abgelehnt und Karl im Pkw der Familie nach Erfurt gebracht. Eine Fahrt im Krankenwagen kam nicht in Frage; die Federung desselben wäre, wie sogar der Krankenwagenfahrer treffend bemerkte, für den schwergeprüften Hals viel zu hart gewesen. In Erfurt bekam Karl nun nicht nur die Chance einer richtigen ärztlichen Behandlung, sondern auch endlich seine Schmerzen genommen.

Konsequenz des Oberarztes Dr.Welzel: „Die Verlegung des alten Mannes geschah gegen seinen Willen. Er wollte bei uns bleiben. Die Tochter hat seine Verlegung durchgesetzt. Im nachhinein stellt sich das alles ohnehin ganz anders dar. Wir sind hier schließlich keine Fachleute. Sicher haben wir den alten Herrn nicht rechtzeitig genug vorgestellt, vielleicht aber hat uns auch der Orthopäde falsch beraten.“ – Und die Moral von der Geschicht:

Wer sich in Zukunft Hälse bricht,

in Artern soll er's lassen sein,

er muß sonst so wie Karlchenschrein.

Henning Pawel