Ein halber Sargnagel für John Major

Zwar sprach das Unterhaus dem britischen Premier gestern das Vertrauen aus, doch am Vortag bekam er keine Mehrheit für seine Europapolitik / 23 Eurogegner stimmten mit der Opposition  ■ Von Ralf Sotscheck

Die britische Regierung eiert der Ratifizierung der Maastrichter Verträge entgegen, doch Premierminister John Major gleicht einem gerupften Huhn. Zwar hat ihm das Unterhaus gestern abend noch einmal mit einer Mehrheit von 339 zu 299 Stimmen das Vertrauen ausgesprochen und ihm damit eine unerwartet große Mehrheit beschert, doch am Vortag hatten ihm die ParlamentarierInnen eine empfindliche Niederlage beigebracht. Der windelweich formulierte Antrag, seine Europapolitik abzusegnen – einschließlich einer Ablehnung der Sozialcharta –, wurde mit Hilfe zahlreicher Tory-Hinterbänkler deutlich abgeschmettert. Allerdings hatten die Parlamentarier kurz zuvor auch den Labour Antrag auf Annahme der Sozialcharta abgelehnt – wenn auch nur mit einer Stimme Vorsprung, derjenigen von Parlamentspräsidentin Betty Boothroyd.

Die Sozialcharta setzt Mindeststandards für die Arbeitsbedingungen in der Europäischen Gemeinschaft. Ziele sind unter anderem die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und ein angemessener sozialer Schutz.

Dieses soziale EG-Mäntelchen könnte Großbritannien 14 Milliarden Pfund (knapp 36 Milliarden Mark) im Jahr kosten, warnte Major. Er hatte sich deshalb 1991 geweigert, die Charta zu akzeptieren. Die elf anderen EG-Länder unterzeichneten die Bestimmungen in einem separaten Protokoll.

Vor den beiden Abstimmungs- Entscheidungen am Donnerstag hatte Major noch einmal den Rest seiner angeschlagenen Autorität eingesetzt, um die Euro-Gegner in der eigenen Partei zur Räson zu bringen. Die hatten nämlich angekündigt, für den Labour-Antrag auf Annahme der Sozialcharta zu stimmen, um dadurch das gesamte Vertragswerk von Maastricht zu Fall zu bringen, weil Major ja gelobt hatte, die Verträge niemals mit der Sozialcharta zu ratifizieren. Der Premierminister hielt seinen Hinterbänklern vor, sie verhielten sich „zynisch und skrupellos“, falls sie mit Labour stimmten. „Es ist gefährlich für das britische Volk, mit der Sozialcharta herumzuspielen“, fügte er hinzu. „Auch in Europa sagen immer mehr Arbeitgeber und Geschäftsleute, daß diese Charta eine Charta zur Arbeitsplatzvernichtung in der gesamten Gemeinschaft ist.“

15 konservative Euro-Gegner ließen sich von seinen Beschwörungsformeln nicht beeindrucken, ihr Zweckbündnis mit den Euro- Befürwortern der Labour-Party scheiterte jedoch knapp, weil Major mit den neun Angeordneten der nordirischen Unionisten eine Vereinbarung getroffen hatte, über deren Inhalt beide Seiten schwiegen. Als er in der nächsten Abstimmung allerdings einen Blankoscheck für seine Europapolitik forderte, stieg die Zahl der Rebellen auf 23, was ihm eine peinliche Niederlage beibrachte.

Daß er nun – auch nach dem Gewinn der Vertrauensabstimmung – in der Tinte sitzt, hat sich Major freilich selbst zuzuschreiben. Der Ausstieg aus der Sozialcharta war damals als großer persönlicher Erfolg für ihn gewertet worden. Die Maastrichter Verträge gingen zunächst auch souverän durch Unterhaus und Oberhaus. Doch um Zeit zu gewinnen, um die eigene Partei in Ordnung zu bringen und eine Spaltung an der Europafrage zu verhindern, ließen Major und sein Kabinett die von der Labour Party geforderte Debatte über die Sozialcharta zu. Dieser Schuß ging jedoch für den Premier nach hinten los.

An der Ratifizierung der Maastrichter Verträge besteht allerdings kein Zweifel, weil auch Labour und die Liberalen dafür sind. Doch daß der Premierminister die Vertrauensfrage stellen mußte, um seine Hinterbänkler vorübergehend zum Schweigen zu bringen, hat seine Position ironischerweise weiter geschwächt. Das Maastricht-Thema ist nämlich längst noch nicht vom Tisch. Dafür sorgt alleine schon Majors Vorgängerin Margaret Thatcher, die ihm aus dem Oberhaus ständig Knüppel zwischen die Beine wirft und eine Volksabstimmung über das Vertragswerk fordert.

Noch hat Major eine – jedenfalls theoretische – Unterhausmehrheit von 18 Abgeordneten. Die kann aber schon am nächsten Donnerstag wieder schmelzen: Sollte in Christchurch an der Küste von Dorset bei der Nachwahl, die durch den Tod des dortigen konservativen Abgeordneten notwendig geworden ist, die Tory-Mehrheit von 23.000 Stimmen flöten gehen, wäre das ein weiterer Nagel in Majors Sarg. Und wenn im Herbst „die grünen Triebe der wirtschaftlichen Erholung“ nicht kräftige Wurzeln geschlagen haben, dann sind Majors Tage wohl gezählt.