Die Politik will falsche Prognosen

Weil die Bundesregierung die Einwanderung ignoriert, sind die amtlichen Bevölkerungsprognosen meistens nichts wert / Seriöse Prognosen kommen unter Verschluß  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Wenn es um die Prognose der künftigen Einwanderung geht, weiß der Bielefelder Professor und Demographie-Experte Herwig Birg, „liegt die Bundesregierung immer am unteren Ende“. Und sie liegt immer falsch. Die letzte offiziell abgesegnete Prognose, die das Statistische Bundesamt und die Landesämter für Statistik im letzten Jahr veröffentlichten, war gleich nach ihrer Bekanntgabe Makulatur.

Die Amtsstatistiker hatten für das Jahr 2000 eine Bevölkerungszahl von gut 81 Millionen vorausgesagt. Soviele Menschen wohnten schon Ende 1992 in der Bundesrepublik – weil viel mehr Immigranten kamen, als die Statistiker offiziell voraussagen durften. „Politische Entscheidungsprozesse“, sagt die Bevölkerungsforscherin Erika Schulz vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, sorgen für solche falschen Prognosen.

„Wanderungsannahmen werden politisch gesetzt“, hat Herwig Birg gelernt. Weil es sich Deutschland immer noch leiste, „die Augen davor zu verschließen, daß wir ein Einwanderungsland sind“, müßten die Regierungsstatistiker stets mit Einwanderungszahlen rechnen, die „möglichst wenig Aufsehen“ erregen, die aber auch herzlich wenig mit der Realität zu tun haben.

Ab und zu, so scheint es, dürfen auch Regierungsstatistiker seriöser rechnen: Nur bleiben diese Ergebnisse dann in der Schublade. Modellrechnungen aus dem Innenministerium vom Februar 1992 kommen zu Ergebnissen, die mit der Einwanderungspolitik der Bundesregierung in keiner Weise in Einklang zu bringen sind. So dürfen die Autoren von „relativ hohen Zuwanderungssalden“ bis Mitte der 90er Jahre ausgehen.

In den Jahren ab 2001 halten sie es dann immer noch für „wahrscheinlich“, daß die Bundesrepublik jährlich 100.000 Einwanderer mehr aufnehmen wird, als Menschen in umgekehrter Richtung das Land wieder verlassen würden. Schon diese – von Experten wie Birg als zu niedrig angesehene – Quote würde den Ausländeranteil bis zum Jahr 2030 im Bundesdurchschnitt auf 16,5 Prozent hochschnellen lassen.

Geht man von einem – nach Expertenmeinung realistischen – jährlichen Wanderungssaldo von 280.000 aus, wie es die interne Ministeriumsstudie in einer Modellvariante tut, leben im Jahr 2030 in Deutschland sage und schreibe 20,8 Millionen Menschen ohne deutschen Paß. Eine andere Einbürgerungspolitik wäre unter solchen Umständen unvermeidlich. In der Studie des Innenministeriums wird mit einer nur gering steigenden Zahl von Einbürgerungen gerechnet: Sie soll von 16.000 im Jahr 1990 auf 35.000 im Jahr 2029 wachsen.

„Die Bundesregierung“, kritisiert Professor Birg, „sagt den Bürgern nicht klipp und klar, wieviel Einwanderung wir bräuchten.“ Daß die Bundesrepublik spätestens nach der Jahrtausendwende auf viele Millionen Zuwanderer geradezu angewiesen wäre, verraten selbst die Berechnungen des Innenministeriums.

Bei einer geringen Zahl von Immigranten, mit einem jährlichen Wanderungsgewinn von 40.000 bis 50.000 Menschen, schrumpft die Bevölkerung wegen des Geburtenrückgangs drastisch. Im Jahr 2030 leben dann nur noch 71,3 Millionen Menschen in Deutschland. Nur bei einer starken Zuwanderung bliebe die Bevölkerungszahl etwa konstant.

Noch „wesentlich gravierender“ als die Abnahme der absoluten Bevölkerungszahl wäre die veränderte Altersstruktur, heißt es in der Studie des Innenministeriums. „Die Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter wird nur bei starker Zuwanderung bis 2018 auf dem Ausgangsniveau gehalten.“ In den anderen beiden Varianten sinkt die Zahl der Beitragszahler zu den Sozialversicherungen dramatisch. Die Zahl der Menschen im Rentenalter steigt dafür deutlich an. Birgs Kommentar: „Die Politiker verschlafen das Thema.“