The Jumpin' Jagg Flash

■ He's a gas, gas, gas: Mick Jagger, der am Montag fünfzig wird, war nie mehr als ein Musterknabe des Rock'n'Roll.

The Jumpin' Jagg Flash

Andere werden ab dreißig fett. Bauchen. Bürzeln. Kriegen Problemzonen. Wachsen ganz ungeheuer nach hinten und nach vorne – nur nicht mehr nach oben.

Nicht so Mick Jagger. Bei ihm scheint das Altern ein Prozeß der Verschrumpelung zu sein: Der Körper bleibt fit, er dehydriert bloß ein bißchen. Zieht die Wangen ein. Treibt Sehnen und Muskeln, als wär's physisches Kapital. Auch mit fünfzig wird so ein Musterkörper gerne noch hergezeigt – auf dem Cover von „Wandering Spirit“ etwa, Jaggers jüngster Solo-LP, wo ein knabenhafter Mann undefinierbaren Alters sich halbnackt auf einem frischbezogenen Lotterbett niedergelassen hat.

Intim wirken soll das, in flagranti fast. Doch daß die in kühlem Blau gehaltene Szene in etwa den Charme eines Body-Building-Studios verstrahlt, gibt dieser Intimität etwas Athletisches, objektiv Ironisches. Gesundheit als Metapher? Mick Jaggers ewig juveniler body wirkt tatsächlich wie später Spott auf die Rock-Tugenden der sechziger Jahre: Verausgabung, Überschreitung, hope I die before I get old. Heute, in den Neunzigern, ist er so etwas wie die personifizierte Rettung des Rock'n'Roll – auf Kosten seiner Mumifizierung.

Schon wieder ein Abgesang auf den Rock'n'Roll also? Daß Rock die Welt nicht verändert: geschenkt. Will man den Biographen glauben, war Michael Philip Jagger allerdings schon immer mehr Musterschüler als Rebell. Als Kind der lower middle class in der britischen Kleinstadt Dartford aufgewachsen, ging es ihm nach Angaben des Bruders Chris bei allem, was er tat, darum, „in erster Linie reich“ zu werden. Frühe Berufswünsche: Journalist, Schriftsteller, Manager. Oder aber eine Karriere im Außenministerium. Bei seinem Tutor an der London School Of Economics, an der er später mit mittlerem Eifer Keynes, Hobbes und gelegentlich etwas Marx las, hinterließ er den „Eindruck eines Teenagers, der das Prestige des Erfolgs wollte, aber nicht das intellektuelle Gewicht besaß, es zu erreichen.“

Auch die Musik, die er mit ein paar Freunden betrieb, war für Jagger zunächst weniger Sucht als Mittel zum Zweck: bloß eine Strategie der Selbstverwirklichung. Erst als der Erfolg der Beatles sich abzuzeichnen begann, unterbrach er sein Studium für ein „Urlaubssemester“, um sich verstärkt der Rhythm-'n'-Blues-Kapelle zu widmen, bei der er abends sang, und die sich – nach einem Titel von Muddy Waters – den Namen „The Rolling Stones“ gegeben hatte. Was sie spielten, war noch nicht wirklich Rock'n'Roll zu nennen, aber sie mochten es.

Dann allerdings muß es Jagger gewesen sein, der den Haufen auf Vordermann brachte. Er übernahm die Organisation, er brachte die entscheidenden Kontakte zuwege, und vor allem: er, der gar kein Instrument spielte, machte aus dem Mangel eine Tugend und entwickelte die Stones-typische Bühnen-Show. „Nie zuvor hat sich ein Weißer auf der Bühne so bewegt wie Jagger“, schrieb die Kritikerin Lillian Roxon, und meinte damit das Androgyne, Gockelhafte, die Elemente von Burleske und Strip-Show, mit denen er den grobgestrickten Rhythm'n'Blues zum Lifestyle aufmotzte.

Andere mögen die „echteren“ Rocker gewesen sein, die prototypischeren Delinquenten, Jagger aber war derjenige, der es verstand, die Symptomatik des white nigger so auszulegen, daß eine ganze Generation junger weißer Hedonisten sich darin wiedererkennen konnte. „Die Rolling Stones sind nicht nur eine Band, sie sind eine Lebenshaltung“, schrieb ihr Manager Andrew „Loog“ Oldham ihnen pathetisch auf die Rückseite ihrer ersten LP. Andere, die der Band nahe standen, sahen es nüchterner. Tom Keylock, ein Weltkriegsveteran, der sich als Bodyguard und Mädchen für alles bei den Stones verdingt hatte: „Ich habe immer gesagt, daß es auf der Welt zwei große Entertainer gibt: den Papst und Mick Jagger.“

Für Keylocks Variante spricht, daß Jagger auch dann noch die Zügel in der Hand behielt, als die Gegenkultur die ersten Toten beklagen mußte (darunter auch Brian Jones, den ursprünglichen Bandleader der Stones). Shit! So ernst hatte Jagger es auch wieder nicht gemeint, wenn er von der Satisfaction sang, die er nicht kriegen konnte. Als er 1967, auf dem Höhepunkt von Swinging London, mit ein paar harmlosen Aufpuschtabletten in der Jackentasche erwischt wurde – und dafür in den Knast zu wandern drohte –, gab Jagger klein bei. „Ich will eigentlich keine neuen Lebensregeln, keinen neuen Moralkodex prägen“, verkündete er kleinlaut vor Gericht – und wurde nach einigem Hickhack freigesprochen. Strafmindernd wurde dabei in Rechnung gestellt, daß die Band einen „bedeutenden Beitrag für die Unterhaltungsbranche und den Export“ geleistet hatte.

Von da an war endgültig klar: Die Rolling Stones waren eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Sie steigerten nicht nur das notorisch kränkelnde britische Bruttosozialprodukt, ihre Sympathie mit dem Teufel vertrug sich auch ganz gut mit den Spielregeln eines reformierten, neoliberalen Showbusineß.

Doch erst gegen Mitte der Siebziger war ihr Bandunternehmen so weit herauf- und ihr Rebellentum so weit heruntergewirtschaftet, daß ihnen nichts mehr zu bleiben schien als sich, wie die Beatles, sang- und klanglos aufzulösen. Und wieder war es Jagger, der clever genug war, die Spielregeln in seinem Sinne zu interpretieren. Er hatte gerade das Fotomodell Bianca Pérez Morena de Marcias geehelicht und war dabei, Vater zu werden; seine Geschäftskontakte hatten ihn mit allerhand Anzugtypen in Chefetagen bekannt gemacht; ohnehin war er längst eine Art junger Lord geworden, der in viktorianischen Villen aristokratischen Lebensstil pflegte und in der Südsee Urlaub machte. Wenn also nicht nur der Rock'n'Roll älter wurde, sondern auch die Leute, die ihn hörten, warum dann nicht Teenager-Musik für Erwachsene machen?

Kein Abgesang also, eher eine Eloge aufs Überleben. Jagger war einer der ersten, die adult oriented rock kapierten. 1974 brachten seine Stones einen Titel heraus, der seither zur resignativen Schwurformel für gediegenen Altsack-Rock avanciert ist: „It's only Rock'n'Roll (but I like it)“.

Um Rock'n'Roll im puristischen Sinne ging es dabei schon lange nicht mehr. „Rock“ war auch Reggae, Country, Disco – alles, was den Eintopf würzte. Selbst ein Titel wie „Angie“ von der 1973 erschienen LP „Goat's Head Soup“ fiel darunter, in dem Jagger als Schnulzier mittleren Alters Beziehungsprobleme besang („Du kannst nicht sagen, wir hätten es nicht versucht...“). Nichts war in diesem Stadium outer als Exzeß: Die Musik für junge Erwachsene, die Jaggers Stones in den Siebzigern designten, galt viel eher den Reibungsverlusten eines geordneten Alltags. Nie war Rock weiter von einer Kritik der reinen Gesundheit entfernt, und zweifellos spricht es für Jaggers Geschäftssinn, daß er diese Schiene offen fuhr: Er ließ sich beim Joggen ablichten und erzählte davon, wie er seine Tochter mit „Jumpin' Jack Flash“ in den Schlaf sang.

Wenn schon ein Rockstar derart bieder war, konnte der Rest es um so bequemer sein. Die Siebziger- Stones waren die lässigmüden Alibirocker einer mittelständisch gewordenen Protestlergeneration. Andererseits: Nichts ist im Rock langweiliger als „Reife“. Ende des Jahrzehnts hatte es Jagger in der Rolle des Abgeklärten zu solcher Meisterschaft gebracht, daß er, ohne das so recht zu begreifen, neben Bands wie Genesis und Supertramp zum perfekten Haßobjekt der jüngeren Generation aufgestiegen war. Als die Neue Welle losbrach, schien es einen Moment so, als würde Papa Jagger ohne große Umstände weggepunkt.

Doch wieder fuhren die Stones eine Strategie der flexiblen Antwort. Wenn das „System“, dessen Bestandteil sie längst geworden waren, ihren Protest aus den Sechzigern zum ästhetischen Gleitmittel der Siebziger neutralisiert hatte, so benutzten sie nun ihrerseits Punk, um sich in den Achtzigern zu modernisieren.

Wieder kein Abgesang also. Was anstand, war der Umbau der Band in einen postmodernen Oldtimer mit Originalkompressor. Plötzlich führte Jagger seinen versoffenen Kumpel Richards als Ur- Punk ins Feld, plötzlich machten die Stones auch wieder Böse-Buben-Musik, in der es von pussies, bitches und beasts of burden nur so wimmelte.

Über die Bestückung eines Markt- und Geschmackssegments im großen Achtziger-Supermarkt der Attitüden kam dieses Neo- Bösesein zwar nicht mehr hinaus, doch auch das hatte seine Vorteile: Jagger konnte parallel zu den Stones eine Reihe von Solo-LPs veröffentlichen, auf denen er abgeklärte Lebemannphantasien zum besten gab, aus seiner Ehe mit dem Fotomodell Jerry Hall plauderte und sogar ein bißchen Frauenemanzipation untermischte. „She's the Boss“ verkündete er augenzwinkernd, um dann wieder von „Hard Women“ zu singen. Gerne beklagte er auch, wie „Lonely at the top“ es sei.

Das war etwas übertrieben, denn so einsame Spitze waren diese Werke nicht – schon gar nicht, was die Verkaufszahlen anbelangt (mit Sicherheit auch Jaggers letztes Kriterium). Wenn der Musterknabe des Rock'n'Roll in seinem Leben etwas nicht geschafft hat, dann ist es die Emanzipation von der Männerhorde, der Aufstieg in die S-Klasse von Michael Jackson, Paul McCartney, Tina Turner und Elton John. Solo klang sein Reißbrett'n'Roll immer nach gefälschten Kreditkarten.

Doch das schmälert kaum eine superansehnliche Erfolgsbilanz. „Man kann nun einmal nicht anders spielen oder schreiben, als es der Zeitgeist fordert“, bekannte Jagger in einem Interview. Im Orten dieser Strömungen hat er sich ähnlich zäh und regenerationsfähig erwiesen wie der Kapitalismus selbst. Wo andere aus seiner Generation längst den Löffel abgegeben haben, ist ihm noch nicht einmal richtig schlecht.

Im Gegenteil. Mick Jagger ist ein survivor, für ihn gilt, was Elias Canetti über die Figur des Überlebenden gesagt hat: die Toten, die er in der Geschichte zurückläßt, all die Gescheiterten, Wahnsinnigen und sonstwie Abgenippelten scheinen ihm auf geheime Weise als Kraft zuzuwachsen. „Aber locker“ soll Jagger einmal auf die Frage des Showmasters Dick Cavett geantwortet haben, ob er sich vorstellen könne, mit sechzig „das gleiche zu tun wie jetzt“ – und es gibt keinen Grund, an dieser Prophezeiung zu zweifeln. Wer bis dahin noch nicht gestorben ist, wird den Mann auch im Jahre 2003 noch in der Glanzrolle bestaunen können, die er seit dreißig Jahren spielt: ein Stehaufmännchen mit Knabenkörper, das federnd immer wieder nach vorne ins Rampenlicht hüpft.

Und der Rock'n'Roll? Um den steht es bei alldem natürlich nicht zum besten, aber tot? Nein, tot ist er nicht. Und ist es nicht irgendwie auch ein Fortschritt, daß er sich unter tätiger Mithilfe von Leuten wie Mick Jagger zur reinen Geschmackssache emanzipiert hat? Man kann die gute Produktion loben, den wohlgeratenen Sound; man kann sich nostalgisch an die Sechziger erinnert fühlen; man kann sich freuen, daß es wenigstens kein Nazi-Rock ist; und man kann sich natürlich auch hinstellen und sagen: Es ist vielleicht noch irgendwie Rock'n'Roll, aber ich mag es trotzdem nicht.