„Mir graut vor dem Winter“

■ Obdachlosenwohnheim Duckwitzstraße rappelvoll/ Grund: Schlechtes Wetter oder mehr Wohnungslose?

„Menschen mit Wohnmöglichkeit, aber ohne Essensversorgung - so solltest Du Deinen Artikel nennen“, rät mir Helmut G. Gerade hat er sich mit viel Mühe einen Strumpf über seinen bandagierten linken Fuß gezogen und ist aus dem Bett aufgestanden. In Zimmer 2 der „Übernachtungseinrichtung für Wohnungslose“ in der Duckwitzstraße gibt es zum Sonntagsfrühstück billiges Scheibenbrot mit Margarine.

Helmut G. ist der einzige Bewohner, der mit mir redet. Die anderen sitzen apathisch im Unterhemd am Tisch, starren vor sich hin oder sind in Bücher vertieft. In dem Sechs-Personen-Zimmer stehen drei Stockbetten und ein Notbett. Das Obdachlosenwohnheim ist rappelvoll.

„Ich bin auch überrascht, daß es hier im Sommer so voll ist“, sagt Willi Albers. Er ist als Sozialarbeiter beim Trägerverein „Innere Mission“ angestellt und sitzt als Aufsichtsperson im Büro. „Bei dem nassen und kalten Wetter kann man natürlich sehr schlecht draußen leben. Aber es könnte auch sein, daß wir nicht nur wegen des Wetters so voll sind. Die Probleme werden schließlich größer. Vielleicht sind unsere Kapazitäten ja bereits jetzt im Sommer erschöpft. Mit graust jedenfalls vor dem Winter.“

Das Haus in der Neustadt bietet seit Jahresbeginn 50 Schlafplätze für Wohnungslose. Wer ein eigenes Einkommen bezieht, zahlt für die Nacht fünf Mark, für die anderen ist die Übernachtung frei. Sieben

Die Besatzung von Zimmer 11 Foto: Tristan Vankann

Frauen leben zur Zeit im Haus, doch die Mehrzahl der Bewohner sind Männer ohne Arbeit und ohne Dach über dem Kopf. „Wenn Du arbeitslos wirst und die Miete nicht mehr zahlen kannst, landest du hier“, sagt Helmut G. Die Bezeichnung „Obdachloser“ will er für sich nicht gelten lassen: „Ich bin nicht obdachlos, mir ist die Wohnung gekündigt worden.“

Zwei kleine andere Gruppen gibt es noch im Haus. Zum einen die, die eine Arbeit haben, aber keine Wohnung finden. Zu ihnen zählt sich Georg aus Zimmer 9. Er ist „stellvertretender Hausmeister“ und wohnt in einem Viererzimmer mit Radio, Fernseher und eigener Kochplatte. „Im Moment ist es sehr eng hier, weil wir wegen des schlechten Wetters über dem Soll belegt sind“, erzählt er.

Georg findet den Neubau gar nicht schlecht: „Die sanitären Anlagen sind fantastisch, es gibt abschließbare Schränke, jeder kann kommen und gehen, wann er will.“ Wer allerdings drei Nächte unangemeldet fehlt, der verliert seinen Bettenplatz. „Wir haben hier hauptsächlich fest installierte Obdachlose“, sagt Georg, der seit Mai in der Duckwitzstraße wohnt und eigentlich in seinem Beruf als Tischler arbeiten will. „Aber mit 49 Jahren? Da gibt es doch so viele Junge, die sich die Betriebe aussuchen können.“

Viele andere Hausbewohner kennt Georg nicht. Die Kritik an der fehlenden Küche versteht er nicht: „Eine Küche wäre doch eh sofort versaut.“ Das größte Problem im Haus ist der Alkohol, auch wenn in den Räumen eigentlich nicht getrunken werden darf. „Wir distanzieren uns schon von anderen Leuten hier, weil wir ja auch morgens zur Arbeit rausmüssen.“

Im Flur hängt neben dem Plakat mit der Aids-Aufklärung („Gummis gibt's umsonst“) die Adresse der Wohnungshilfe in der Langestraße. „Bitte nehmen Sie dieses Angebot in Anspruch“, sagt der handgeschriebene Zettel. Die Erfolgsquote bei der Wohnungsvermittlung, so heißt es, beträgt 20 Prozent.

Günther S., den alle „Nase“ nennen, gehört zur dritten Gruppe der BewohnerInnen. Er ist ein „Durchreisender“. Einer, der nur dann im Haus schläft,

wenn wirklich Sauwetter ist; So wie in den letzten Tagen, wo er am Wochenende auf einem Notbett im Fernsehraum geschlafen hat. „Ich komme nur zum Unterhalten und zum Baden, nicht zum Schlafen“, sagt er. Seine Sprache ist undeutlich, sein Blick irrt während des Gesprächs durch den Raum. Günther träumt von zwei Zimmern, denn er hatte noch nie eine eigene Wohnung. Wo er denn heute nacht schlafen werde? Günther S. zuckt mit den Achseln. „Vielleicht auf einer Toilette“.

Günther S. ist ein tragischer Fall, sagt Sozialarbeiter Albers. „Er ist psychisch krank und manchmal so aggressiv, daß er inzwischen in allen Heimen im Umkreis von hundert Kilometern Hausverbot hat.“ Insgesamt sind nach Erfahrung des Sozialarbeiters viele Wohnungslose gehandicapt: Psycho-soziale Schwierigkeiten, Alkohol, Straffälligkeit, Körperliche Gebrechen. Albers hat festgestellt, daß die Wohnungslosen immer mehr werden, immer länger auf der Straße sitzen und immer jünger sind. Auch wenn es das Problem nicht völlig löse, gebe es ein Gegenmittel: „Wohnungen, Wohnungen, Wohnungen.“ Dreihundert Betten gebe es für Obdachlose in Bremen, aber die Dunkelziffer sei hoch: „Wer sich noch irgendwie durchschlagen kann, der kommt nicht zu uns. Zu uns kommen die, die wirklich nicht mehr weiterwissen.“ Bernhard Pötter