: Mit Karaoke für Gott und Gewerkschaft
In den USA streiken die Bergarbeiter – nicht für mehr Geld, sondern für ihre Jobs und das Überleben der Gewerkschaften / Die Mitgliedszahlen sind drastisch gesunken ■ Aus Danville Andrea Böhm
Tim Williams streicht sich über seinen imposant gewölbten Bauch, zieht ihn ein, streckt ihn wieder heraus und holt Luft für den nächsten Kalauer. „Hey Leute, ich muß meine Figur im Auge behalten. Kuckt ja sonst keiner mehr hin.“ Es lacht keiner, aber das stört ihn nicht. Seine Zuschauer gehören nicht zu der Sorte, die auf Handzeichen kreischt und klatscht. Kein frisch geföntes Talk-Show-Publikum, sondern zerfurchte, verschlossene Gesichter. Aber Williams wird sie schon noch aufwärmen. Bevor der Hauptstar der Veranstaltung die Bühne betritt, bleiben ihm noch mindestens dreißig Minuten Zeit für das, was er am liebsten tut: christliches Karaoke.
Zu Countryklängen vom Band singt er „Jesus lifts you higher“ und „I'm so glad that the Lord saved me“. Jetzt wippen tatsächlich ein paar auf den Zuschauerbänken mit – ohne dabei sehr viel fröhlicher zu wirken. Trotz Gratis-Cola, Hot- Dog-Stand und angekündigter Tombola bleibt die Stimmung an diesem Samstag auf der Festwiese in Danville, West Virginia, gedrückt, was unter anderem dem Outfit der Anwesenden und dem Anlaß ihrer Zusammenkunft zuzuschreiben ist. Es haben sich streikende Bergarbeiter zur Kundgebung eingefunden. Die meisten tragen Camouflage-T-Shirts und Camouflage-Baseballkappen. Ganze Familien stehen in Uniform nach Hamburgern oder fluoreszierender Zuckerwatte an – oder versammeln sich an einem Verkaufsstand, an dem es noch mehr Camouflage-Hemden, -Kappen, -Hosen oder -Stirnbänder mit dem Aufdruck „UMWA-Victory“ zu kaufen gibt. Man sucht unwillkürlich nach den dazugehörigen Gewehren und Revolvern, findet aber nur ein Transparent über der Bühne: „God, Guns And Guts Created The UMWA.“ Zu deutsch: „Gott, Gewehre und Courage schufen die Bergarbeitergewerkschaft Amerikas.“
Ein wenig Beistand des Allmächtigen könnten die Gewerkschaften schon brauchen in einer Zeit, da die meisten Amerikaner das Wort „Streik“ historisch irgendwo zwischen Teddy Roosevelt und Pearl Harbor eingeordnet haben und selbst die überzeugtesten Aktivisten in einsamen Stunden eingestehen müssen, daß sie einer gesellschaftlichen Randgruppe angehören: Sechzehn Prozent aller Arbeitnehmer in den USA sind heute noch gewerkschaftlich organisiert. Vor zehn Jahren war es jeder vierte.
Ein Blick auf diese Statistik läßt ahnen, daß dieser Arbeitskampf nicht um höhere Löhne ausgetragen wird. „Es geht nicht ums Geld“, sagt Mike Smith, Vizevorsitzender des UMWA-Bezirks „Local 1473“ und knetet mit den Fingern seine Coladose. „Es geht um unsere Arbeitsplätze und darum, ob wir vor die Hunde gehen.“ Und ganz nebenbei steht auch das Überleben der UMWA auf dem Spiel. Auf deren Vizepräsidenten Cecil Roberts warten sie heute in Danville. Wenn schon Gott und Gewehre nicht zur Verfügung stehen, soll Roberts ihnen wenigstens Mut und Durchhaltevermögen einimpfen.
Mike Smith ist 1967 im Alter von zwanzig Jahren zum ersten Mal in den Schacht der „Shoemaker“-Zeche eingefahren. Damals galt ein Job im Bergbau als ein Job fürs Leben. Die Industrie boomte. Wer die Knochenarbeit und das Risiko der „Schwarzen Lunge“ auf sich nahm, wurde gut bezahlt und genoß überdurchschnittlich gute Sozialleistungen. Die UMWA war ein politisch ernstzunehmender Faktor, hatte 200.000 Mitglieder, und ein Großteil der Kohle für die Energieversorgung des Landes wurde von diesen Mitgliedern gefördert. Wenn sie streikten – und die Bergarbeiter beliebten viel und wild zu streiken –, dann war die Nachricht nicht nur Aufmacher in den Lokalzeitungen der Kohlereviere von Pennsylvania bis Alabama, sondern stand auch auf der ersten Seite des Wall Street Journals und der New York Times.
Heute tragen noch 70.000 Kumpel einen Mitgliedsausweis der UMWA in der Tasche – zumindest behauptet das die Gewerkschaft. Nur noch 30 Prozent der benötigten Kohle kommt aus ihren Schächten. Mike Smith hat in den letzten zehn Jahren mitansehen müssen, wie sein Arbeitgeber, die „Consol Inc.“, die Belegschaft in seiner Zeche nach dem Prinzip last hired, first fired von 700 auf 330 Kumpel reduziert hat. Kollegen fanden sich plötzlich in der Schlange vor dem Arbeitsamt wieder, um ihren monatlichen Scheck über 200 Dollar abzuholen.
Zur gleichen Zeit mußte die amerikanische Gewerkschaftsbewegung unter den Reagan-Bush- Administrationen eine Niederlage nach der anderen erleiden. Die schlimmste war die Niederschlagung des Fluglotsen-Streiks, den der damalige Präsident Ronald Reagan schlicht dadurch beendete, indem er sämtliche Mitglieder der „Professional Air Traffic Controllers Association“ (PATCO) feuern und ihre Arbeitsplätze neu besetzen ließ. „Damals“, knurrt Mike Smith, „haben wir alle geschlafen. Wir hätten einen Generalstreik ausrufen müssen.“
Nun möchte man meinen, der „Consol Inc.“ gehe es wirtschaftlich schlecht. Das Gegenteil ist der Fall. Smith und seine Kollegen in der „Shoemaker“-Zeche müssen pro Woche vier Schichten von zehn Stunden und zwei Schichten von acht Stunden schieben – sogenannte Pflichtüberstunden, die in den Verträgen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern festgelegt werden. Gleichzeitig hat „Consol Inc.“, die seit 1992 zu fünfzig Prozent der deutschen Rheinbraun AG gehört, am anderen Ende des Kohleflözes eine zweite Zeche eröffnet – offiziell zwar unter dem Namen eines neuen Firmenablegers, doch mit technischem Gerät und Management- Personal aus der „Shoemaker“- Zeche. Der kleine, aber feine Unterschied: Die Bergarbeiter im zweiten Werk sind nicht gewerkschaftlich organisiert. Ergo haben sie kein Anrecht auf die von der Gewerkschaft erkämpften Leistungen wie Pensionen und eine umfassende Gesundheitsversorgung.
Man muß kein übermäßig mißtrauischer Mensch sein, um sich vorzustellen, daß auch die übrigen 330 Kumpel aus der „Shoemaker“- Zeche und den anderen gewerkschaftlich organisierten Gruben in ein paar Jahren Kündigungsschreiben in der Hand halten werden. Dann wäre Smith Ende Vierzig – zu jung, um die staatliche Sozialversicherung und die betriebliche Krankenversicherung für Pensionäre in Anspruch zu nehmen. Zu alt, um einen neuen Job zu finden. Das ist vor allem Mike Smiths Problem. Das Problem der UMWA besteht darin, daß Smith in jeder Hinsicht den typischen UMWA- Kumpel repräsentiert: Der ist, statistisch errechnet, durchschnittlich 44 Jahre alt und arbeitet in einer Zeche, deren Vorkommen in sieben bis zehn Jahren erschöpft sein werden. Die UMWA kann sich ausmalen, wann auch ihre Mitgliederkartei erschöpft sein wird.
Als der letzte Vertrag zwischen dem Verband der Kohleproduzenten, der „Bituminous Coal Operators Association“ (BCOA), und der UMWA im Februar auslief, verlangte UMWA-Präsident Richard Trumka mindestens eine Fortsetzung des Status quo: Drei von fünf Arbeitsplätzen in neuen Zechen müssen an Gewerkschaftsmitglieder gehen. Die BCOA hält dies nach den Worten ihres Sprechers Tom Hoffman, gleichzeitig Vizepräsident von „Consol Inc.“, für ein „antiquiertes System“, das die Konkurrenzfähigkeit auf dem Markt beeinträchtigt. „Die Arbeitgeber wollen die besten Leute aussuchen und einstellen.“ Soll heißen: junge Leute ohne Gewerkschaftsausweis, keine wie Mike Smith, die 26 Jahre Schufterei unter Tage in den Knochen haben und mit 46 Jahren aussehen wie Anfang Sechzig.
Die BCOA bot im Mai der UMWA tatsächlich drei von fünf neuen Jobs, nachdem jedoch vierzig Prozent der Belegschaft bereits eingestellt waren. Trumka verließ den Verhandlungstisch und ließ in den ersten Zechen zum Streik ausrufen. Mittlerweile hat sich der Arbeitskampf auf sieben Bundesstaaten ausgedehnt. Insgesamt 16.000 Kumpel haben die Arbeit niedergelegt. Bestreikt werden neben der „Consol Inc.“ auch noch Zechen von fünf anderen Konzernen.
Noch verläuft der Arbeitskampf ohne Zwischenfälle. An den Streikposten vor den Zechen achten strike captains darauf, daß die Verhaltensregeln der UMWA eingehalten werden: keine Waffen, kein Alkohol, kein Obszönitäten. Auch der Gruß mit dem ausgestreckten Mittelfinger ist untersagt, falls denn die Busse mit den Streikbrechern kommen sollten, die anzuheuern in den USA erlaubt ist. Offiziell werden sie unter der euphemistischen Bezeichnung „replacement workers“ geführt. Gerichtliche Verfügungen verbieten es den Streikposten, die scabs aufzuhalten.
Streikbrecher zu finden war in den USA nie ein Problem – und ist es auch heute nicht. Die Arbeitslosenrate liegt landesweit bei sieben Prozent, West Virginia, einer der ärmsten Bundesstaaten, hält zur Zeit den traurigen Rekord mit 11,6 Prozent. Streikmeldungen sind für viele Arbeitslose dieser Tage gleichbedeutend mit Stellenanzeigen. „Scab-Tourismus“, nennt Mike Smith dieses Phänomen – und er kann den Streikbrechern noch nicht mal richtig böse sein.
Streikbrecher sind in den USA zudem nie mit dem gleichen Stigma behaftet gewesen wie in Europa. „Dieses Land ist wie geschaffen für Streikbrecher“, schreibt der Arbeitsrechtler Thomas Gheoghegan in seinem Buch „Which Side Are You On“, einer exzellenten Abhandlung über die Demontage der US-Gewerkschaften. „Einfach an den Streikposten vorbeigehen und seinen eigenen Deal machen. Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, und ein Streik schafft manchmal nichts weiter als das: eine Menge Möglichkeiten.“
Das Credo der amerikanischen Gesellschaft lautet „Individualismus“, das einer jeden Gewerkschaft heißt „Solidarität“, was auch noch mit den gleichen Buchstaben anfängt wie „Sozialismus“. Das allein ließ letztere den meisten Amerikanern immer schon suspekt und potentiell unamerikanisch erscheinen. Interner Filz, Korruption und ein oft stalinistischer Führungsstil von Funktionärscliquen bis in die siebziger Jahre trugen nicht gerade zur Imageverbesserung bei.
Die Tragik von Männern wie Mike Smith mag letztlich darin liegen, daß sie nie etwas mit Korruption zu tun hatten und sich für durch und durch amerikanisch halten. Sie waren im Vietnamkrieg, haben während Operation Desert Storm mit Begeisterung gelbe Bänder an die Haustüren geheftet. Und wer nach der Wachschicht nichts zu tun hat, hilft, Carepakete für die Flutopfer am Mississippi zu packen. Solidarität hin, Sozialismus her, Mike Smith hat sein Lebtag nie daran gedacht, die „Consol Inc.“ zu enteignen. Im Gegenteil, mit seiner Zustimmung – und der der UMWA – hat er Extraschichten geschoben, damit pro Tag noch mehr Tonnen gefördert werden und keine neuen Arbeiter eingestellt werden müssen. Und heute liest er in der Zeitung, daß „Consol Inc.“ Stellenanzeigen für Bergarbeiter schaltet – eine unmißverständliche Drohung, daß demnächst Streikbrecher angeheuert werden. Das, sagt er, könne es ja wohl nicht gewesen sein.
Auf der Bühne muß inzwischen Tim Williams das Feld räumen. Cecil Roberts, der Vizepräsident der UMWA ist eingetroffen, ein kleiner, gebeugter Mann mit heller Stimme, der selbst aus einer der Zechen in West Virginia stammt. Er gehört zur Reformgeneration der Gewerkschafter, die die interne Demokratisierung durchkämpfte und jetzt um ein neues Rollenverständnis bemüht ist: Kooperation statt Konfrontation mit den Arbeitgebern bei dem Versuch, das Land mit Hilfe einer gut qualifizierten Arbeiterschaft wirtschaftlich wieder auf die Beine zu bringen. Das klingt nach Robert Reich und Bill Clinton.
Von letzterem hat Roberts offensichtlich auch abgekupfert, wie man eine müde Menschenmenge in Schwung bringt. Clinton ließ sich einst auf dem Parteitag der Demokraten von „Fleetwood Mac“-Hits auf die Bühne schwappen. Roberts läßt die Festwiese mit „Tom Petty and the Heartbreakers“ beschallen und tanzt erst einmal. Jetzt klatschen tatsächlich alle mit. Der Gewerkschaftsfunktionär wärmt seinen brothers and sisters von der UMWA das Herz mit einer engagierten Rede, in der Martin Luther King ebenso zu Ehren kommt wie das Alte Testament und die Anarchisten der frühen Arbeiterbewegung. Als er seinen Zuhörern den großartigsten Sieg in der Geschichte der Gewerkschaften verspricht, ist er schon fast heiser. „We'll be free at last, thank God, the Almighty“, ruft er zum Schluß.
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