■ In Moskau gehen Gerüchte über einen baldigen Putsch um
: Bolschewistische Unkultur

War es jemals anders? Wir erinnern uns – vor einem Jahr brach Boris Jelzin seinen Schwarzmeer-Urlaub ab. Gerüchte häuften sich, Rußland stehe an der Schwelle eines Putsches. Diesmal verkürzte man Jelzins Erholung im nördlichen Nowgorod. Ganze zwei Tage vor der Zeit brach er nach Moskau auf. Wir erinnern uns: Vor zwei Jahren – es scheint eine Ewigkeit her – wurde tatsächlich geputscht – dilettantisch zwar, aber immerhin. Und was noch zu denken geben sollte: damals kursierten keine Gerüchte. In den periodischen Putsch- und Sturzvisionen aus Moskau erkennen wir unschwer Überhänge aus der bolschewistischen Unkultur. Palastrevolutionen der Sowjet-Ära fanden nach dem Roten Oktober stets im Sommer statt.

Natürlich ist in Moskau noch lange nicht alles im Lot. Wann war das jemals so? Die alternde Legislative stieg in den letzten Tagen mal wieder in die Eisen. Der seiltänzelnde Chasbulatow nutzte die Chance des abwesenden Jelzins, um die Welt und die Medien in Aufruhr zu versetzen. Letztere haben panische Angst, den nächsten Putsch zu verschlafen. Die Gesetze und Maßnahmen, die der Oberste Sowjet verabschiedete, konterkarieren in der Tat das geplante und längst vollzogene Reformprogramm. Die Privatisierung möchten sie aufschieben, soeben billigten sie ein Budgetpaket, das den von der Regierung vorgelegten Haushalt um 25 Prozent übersteigt. Subventionen für abgewrackte Staatsbetriebe und Rüstungsindustrien. Kübelweise werden Korruptionsvorwürfe über Regierungsmitglieder ausgekippt, die sich auf Kosten des Staatseigentums bereichert haben sollen.

All das kennt man in Moskau schon. Äußert sich der Oberste Sowjet, reagiert die Mehrheit mit wütendem Abwinken oder demonstrativem Gähnen. Die Menschen nehmen ihn nicht für voll. Ihre Sorgen liegen woanders, sie haben sich im neuen Rußland einzurichten. Die Mehrheit bestätigte das schon durch ihr Votum im Aprilreferendum. Und die Korruptionsvorwürfe? Als könnten die einen Russen aus der Fassung bringen. Mit der Muttermilch erfuhr er, was dort oben geschieht. Daß ausgerechnet die Abgeordneten, die um nichts anderes kämpfen als ihren Klassenerhalt – die institutionell sanktionierte Korruption sozusagen –, die Saubermänner spielen, entlockt ihm nur ein kaltes Grinsen. Jeder versteht, die Legislative will den Zugang zur Normalität blockieren, Rußlands neue Verfassung verhindern. Es gelingt ihr nicht. Denn ein weiteres Gerücht straften die Russen Lügen, das ihrer politischen Apathie. Wenn es drauf ankam, waren sie jeweils zur Stelle. Klaus-Helge Donath, Moskau