Rio: Massaker im Morgengrauen

■ Sieben Straßenkinder im Schlaf erschossen / Racheaktion?

Rio de Janeiro (taz) – Freitag nachmittag in Rio de Janeiro: Die Blutspuren auf dem Bürgersteig zeugen noch von der Grausamkeit des Massakers im Morgengrauen. Schwarze Stoffetzen an einem Holzkreuz symbolisieren Trauer und grenzenlose Wut angesichts der brutalen Exekution schlafender Straßenkinder vor der Kirche „Candelaria“ im Stadtzentrum. Die Überlebenden beten das letzte „Vaterunser“ für die Toten im Alter von 10 bis 16 Jahren.

„Der Mord an den sieben Kindern ist eine unerhörte Provokation“, entfährt es Herbert de Souza, Vorsitzender des brasilianischen Instituts für wirtschaftliche und soziale Analysen, Ibase. „Wir dürfen die Straflosigkeit gewisser gesellschaftlicher Gruppen einfach nicht mehr hinnehmen.“

Bei dem brutalen Verbrechen handelt es sich vermutlich um einen Racheakt der Polizei. Die Tragödie begann am vergangenen Donnerstag, als Marcos Vinicius de Souza, der mit rund 40 Straßenkindern vor der „Candelaria“ nächtigt, während einer Demonstration im Zentrum von Rio von Polizisten verhaftet wurde. Die Beamten verdächtigten den Bettler, Schusterleim gestohlen zu haben, um sich damit zu betäuben. Marcos de Souza wurde von den Polizisten im Streifenwagen verprügelt und kurz darauf wieder freigelassen, weil er eine Quittung vorweisen konnte. Aus Protest gegen die brutale Behandlung ihres „Kollegen“ warfen die Kinder mit Steinen nach dem Polizeiauto.

Die Vergeltung kam nachts um ein Uhr: Fünf maskierte Männer schossen auf die schlafenden Kinder. Vier Jugendliche starben sofort. Drei weitere wurden von den Mördern ins Auto gezerrt und auf der Rückbank durch Kopfschüsse hingerichtet. Die Leichen ließen die Todesschwadronen vor dem Museum für Moderne Kunst, „Mam“, ebenfalls im Stadtzentrum von Rio, liegen.

Der Kommandant der Militärpolizei von Rio, Oberst Carlos Magno Nazareth Cerqueira, hatte am Freitag dennoch nichts Besseres zu tun, als jede Schuld von sich zu weisen: Es wäre „ausgesprochen blöd“, wenn die Polizisten aus Rache an einem drogenabhängigen Bettler die Kinder umgebracht hätten. Doch Cerqueira wurde eines Besseren belehrt: Einige der Überlebenden machten bereits drei Tatverdächtige innerhalb der Militärpolizei ausfindig, die allerdings mittlerweile wieder aus der Haft entlassen sind. Aus Polizeikreisen verlautete, Augenzeugen hätten Polizisten bei einer Gegenüberstellung nicht wiedererkannt.

In Brasilien sterben täglich vier Kinder einen gewaltsamen Tod, lautete das Ergebnis einer Parlamentarischen Untersuchungskommission zur Ermordung von Kindern, die ihre Arbeit bereits 1991 abschloß. In Rio sind die herumstreunenden Jugendlichen besonderer Lebensgefahr ausgesetzt. Nach Statistiken der schwarzen Bürgerrechtsbewegung „Ceap“ kamen im vergangenen Jahr 424 Kinder ums Leben. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind bereits 320 Minderjährige spurlos verschwunden. Für die Morde sind in den meisten Fällen Polizisten, Ex-Polizisten sowie private Sicherheitskräfte verantwortlich, die von Geschäftsleuten finanziell unterstützt werden. Der international bekannte Anwalt der Straßenkinder aus Rio, Volmer de Nascimento, der bis vor kurzem regelmäßig die Gewalttaten an den Ärmsten der Armen denunzierte, sitzt inzwischen selbst hinter Gittern. Dem Sozialarbeiter wird vorgeworfen, im Jahr 1991 eine Entführung vorgetäuscht zu haben.

Bis jetzt konnten die Todesschwadronen mit der stillschweigenden Zustimmung eines Großteils der brasilianischen Öffentlichkeit rechnen. Die Straßenbevölkerung wird für Raubüberfälle sowie für die Gewalttätigkeit an der Copacabana im allgemeinen verantwortlich gemacht. Die Bildhauerin Yvonne Melo, die die Kinder an der „Candelaria“ betreut, bekommt dies täglich zu spüren: „Auf den Empfängen der High- Society mustern mich viele Frauen mit einem herabwürdigenden Blick“, erzählt die Künstlerin. Viel schlimmer jedoch, so Yvonne Melo, sei der haßerfüllte Blick, mit dem die Mehrheit der Bevölkerung diese Kinder strafe.

Yvonne Melo befürchtet, daß das Massaker an der „Candelaria“ nur der Auftakt einer Serie von Morden war. „Es ist gut möglich, daß in zwei bis drei Monaten die Jagd auf die Straßenkinder weitergeht“, meint die 44jährige. Die Heuchelei brasilianischer Politiker hat sie gründlich satt. „Mit den Hilfsprogrammen für Straßenkinder, die andauernd verkündet werden, wollen die Politiker nur ihr Image aufbessern und Karriere machen“, ist sie überzeugt. Bleibt abzuwarten, ob dieses Massaker die Gesellschaft endlich aufrüttelt. Astrid Prange