Die schweren Tage - Teil 3: Der Lebensraum von gestern

■ Folge 3: Dienstag, 27. Juli 1943 - Der Tag vor dem Feuersturm

Nach den Angriffen gibt es für die „Ausgebombten“ immer Kaffee. Echten Bohnenkaffee, keinen „Ersatz“. Das „volle Aroma“ steigt in Altona zur Wiederbelebung der Moral von den Notaufnahmestellen des Roten Kreuzes auf oder mischt sich in Eimsbüttel über den Schlangen vor den Büros der NSDAP-Ortsgruppen mit dem Brandgeruch. Der „kriegswichtige“ Rohkaffee kann nur noch in Kleinstmengen über neutrale Länder wie Spanien oder die Türkei importiert werden.

Ohne den Beigeschmack der Rauchsäulen zieht an diesem Tag der Duft von fünf Tonnen der kostbaren Bohnen aus einer kleinen Rösterei durch die Wendenstraße in Hammerbrook. Der dritte Tag nach der „Bombennacht“ ist in den Vierteln der Südstadt ein normaler Werktag. Mit ihren Tischlereien, Kohlenhändlern und Gemüsehökern bieten die Straßenzüge zwischen Rothenburgsort und Wandsbek das „friedensmäßige“ Bild einer vermeintlichen Idylle spätwilhelminischer Kleine-Leute-Welt. In der kommenden Nacht werden um den kleinen Kaffeeberg 1.127 Tonnen Spreng- und 1.199 Tonnen Brandbomben explodieren.

Über deren Spätfolgen werden ab dem 14. August dieses Jahres 36 Stadtplaner und Architekten eine Woche lang auf dem Hamburger Stadtentwicklungsforum in den Deichtorhallen sinnieren. „Den Lebensraum von Morgen aus dem Lebensraum von Gestern gewinnen“, lautet das angesichts der wogenden Büroberge der City-Süd durchaus sympathische Motto.

Ein „Lebensraum“ vom Juli 1943 ist seit einem halben Jahr mangels Baugenehmigung in Hammerbrook zu sehen. Vierzig Meter links vom „Front“ am Heidenkampsweg harrt eine halbherzig ausgehobene Baugrube der Bagger, die da noch nicht kommen dürfen. Im aufgewühlten Erdreich rote Ziegelfundamente auf Holzdalben im feuchten Brookgrund. Vom Bürgersteig der Gotenstraße aus gesehen wird das Bild vom „Lebensraum“ hinfällig: Schwarze Brandflecken, zwei, drei Meter im Durchmesser an den Mauerresten zum Heidenkampsweg hin: „Es hatte ja fast jeder Wohnblock seinen eigenen Luftschutzkeller“.

16.000 solcher Wohnblocks bilden bis zum 27. Juli 1943 die Stadtteile Hammerbrook, Borgfelde und Hamm. An der Ecke Rosenallee/Repsoldstraße, gegenüber der Münze, hat der Irrwitz der Bombenreihen einen winzigen Rest dieser Vergangenheit ausgespart. Im toten Winkel zwischen S-Bahntrasse im Norden, Spalding- und Nordkanalstraße im Süden und Westen steht noch immer, vergessen von Wirtschaftswunder und „Boomtown“, eine Häuserzeile aus den Jahren der Urbanisierung Hammerbrooks gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts.

Die Volksschule Rosenallee von 1883, gerade noch lesbare Laden- und Firmeninschriften auf dem abplatzenden Putz über dem Souterrain, vier, fünf Stockwerke in rotbraunem Klinker, nichts Prunkvolles, aber gelegentlich ein optischer Schnörkel in der Fassade. Auf der anderen Seite der Rosenallee, keine zehn Schritte gegenüber, das Repsold-Haus. Die dunkle Schattierung in der blau-roten Ziegelfront verrät erst auf Armeslänge den Recycling-Bau. Vom Feuer angeschmolzene Stirnseiten und schwarz aufgeworfene Brandbläschen an den Ziegeln, beim eiligen Wiederaufbau zu einem zusammenhanglosen Muster aufgemauert.

Quer über die Spaldingstraße fällt der Blick immer noch durch eine Schneise geradewegs hinüber zu den geschwungenen Glasdächern der Großmarkthallen. Zwischen dieser Schneise und der Spaldingstraße liegt die Grundfläche des „Lebensraumes von Gestern“: 1939 zählte Hammerbrook 44.756 Einwohner, 1990 verzeichnet das Melderegister 478 Namen.

Bei Ostwind liegt auf der Wendenbrücke, unmittelbar jenseits vom Heidenkampsweg, auch heute noch Kaffeeduft in der Luft. Wendenstraße 464 ist die Adresse der Tchibo-Rösterei. Linker Hand von der Brücke, im Hochwasserbassin, dümpeln die Boote der „Hamburger Wassersport Gemeinschaft von 1973“. Gegenüber, an der Mündung zum Mittelkanal, schimmert durch das Grün der Uferbepflanzung die rote Asche der „Oskar-Kesslau-Sportanlage“.

Ein schmaler Pfad führt von der Wendenstraße über die Gitterroste einer Fußgängerbrücke auf den Sportplatz zu. Meist liegt die Anlage menschenleer im Schatten des S-Bahndamms nach Rothenburgsort, die „Insel der Stille“ schlechthin. Über den Bäumen gibt lediglich das Polizeihochhaus am Berliner Tor den Orts- und Zeitbezug.

Am 27. Juli 1943 tönen zwanzig Minuten vor Mitternacht von der Feuerwache am Berliner Tor die Sirenen herüber. Danach, erinnert sich eine Zeitzeugin später, „war es vollkommenen still. Keine Flugzeuge. Keine Flak. Es war eine zauberhafte Sommernacht.“ Keine zwei Stunden später wird die „Oskar-Kesslau-Anlage“ im Zentrum des „Feuersturms“ liegen.

Morgen Folge 4: „Der Mund blieb stumm“.