: Dem Schmerz zu Leibe rücken
■ Jeder Zwanzigste chronisch schmerzkrank / Bremer Schmerzhilfe
Dem Schmerz
zu Leibe rücken
Jeder Zwanzigste chronisch schmerzkrank / Bremer Schmerzhilfe
Aufgegeben, abgeschoben, alleingelassen — sie leben schon mit der Hölle, und als sei es noch nicht genug, kommt noch die Einsamkeit dazu. Wer gibt sich schon mit jemandem ab, der chronische Schmerzen hat? Wer will sich schon die immergleichen Geschichten anhören? Freunde nicht, und die Ärzte schon gar nicht: Keine besonders attraktive PatientIn, die immer und immer wiederkommt mit denselben Symptomen, als lebendiges Mahnmal für das eigene medizinische Versagen. „Jeder Doktor verdreht nur die Augen“, sagt die Schmerztherapeutin Jutta Freese. Dabei wissen die Geplagten oft gar nicht, daß es doch Hilfe gibt, wo viele Ärzte schon aufgegeben haben.
Die Bremer Schmerzhilfe bietet Therapiegruppen und Selbsthilfe an. Wenns um Wahlen ginge, sie kämen ins Parlament: Mehr als fünf Prozent der Bevölkerung, so wird geschätzt, leidet allein unter chronischen Kopfschmerzen. Dazu kommen viele Gelenkerkrankte, Alte, die unter Arthrose leiden, zu Ende therapierte und aufgegebene Krebspatienten, Unfallopfer, die Patientenliste ist lang. Demgegenüber scheint es fast lächerlich, wie klein die Bremer Gruppe ist: Gerade mal 80 Mitglieder hat die Schmerzhilfe e.V. in Bremen, rund 2.500 bundesweit. „Und die Kurse werden oft noch nicht mal voll“, sagt Jutta Freese, Ärztin im Schmerzzentrum des Zentralkrankenhauses Ost und nebenbei noch die Geschäftsführerin des Bremer Vereins.
Zur Schmerzhilfe kommen vor allem die aufgegebenen „hoffnungslosen Fälle“. Bei diesen Patienten kann es nur noch darum gehen, Hilfestellungen zu geben wie sie den Schmerz lindern, aber ansonsten mit ihm leben können. „Schmerzbewältigungstraining“, sind solche Kurse übertitelt. Unter Anleitung eines Psychologen lernen die geplagten Patienten vor allem Technik, zum Beispiel über das Jacobson-Training: Auf dem Rücken liegend wird jede einzelne Muskelgruppe angesprochen, immer nach dem Schema extreme Anspannung über mehrere Sekunden — bewußtes Loslassen.
Das Training rückt dem Schmerz buchstäblich zu Leibe: Schmerz kommt in vielen Fällen durch Verspannungen im Körper, Schmerz produziert aber auch Verspannungen, die ihrerseits wieder Schmerz produzieren, und die können nach den Jacobson-Methode abgebaut werden.
Neben den Menschen, die keine andere Chance haben, als den Schmerz zu akzeptieren, gibt es noch eine riesige Gruppe, deren Leiden ein Ende haben könnten. Wieviele in der Tablettenabhängigkeit festsitzen, darüber gibt es nur Schätzzahlen. Ein Teufelskreis, in den vor allem Frauen kommen.
Oft sind es PatientInnen, die unter Migräneanfällen leiden. Wegen der Kopfschmerzen und der Angst vor Anfällen nehmen sie Tabletten, weil die Kopfschmerzen immer wiederkehren nehmen sie immer mehr Tabletten, und irgendwann gehen die Tabletten nach hinten los: medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz, von den Nieren- und Leberschäden nach täglich 10 Tabletten über mehrere Jahre ganz abgesehen. Da hilft nur eine Entziehungskur. Und dann können MigränepatientInnen an ihre spezielle Therapie gehen.
Migräne ist nicht heilbar, „aber die Anfälle kann man reduzieren“, sagt die Schmerztherapeutin Jutta Freese. Akupunktur, Entspannungstraining, zur Not auch Betablocker.
„Jeder Schmerz ist ein Warnsystem“, sagt Jutta Freese. „Nur hat sich manchmal das Warnsystem verselbständigt.“ Und da helfen nur selten Pillen, auch wenn der Doktor mit seinem Latein am Ende ist. Oft reicht schon ein Schritt in die Hand der Schmerzspezialisten. Freese: „Neunzig Prozent der Patienten können wir helfen.“ Jochen Grabler
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