Schweyk und die oberste Sphinx

Wird die in der Ära Jack Lang gepflegte Vielfalt auf den französischen Bühnen zurückgestutzt? – Auf dem Theaterfestival in Avignon beherrscht die Angst vor den Sparplänen der neuen Regierung die Szene  ■ Von Jürgen Berger

Hätte Jacques Lassalle, von dem man derzeit nicht so recht weiß, ob er noch Chef der Comédie Française ist, den „Dom Juan“ in weniger unsicheren Zeiten auf die Bühne gebracht, wäre die Diskussion über die Qualität seiner Inszenierung wohl offen entbrannt. Im Moment allerdings geht es um etwas anderes. Jacques Toubon, Nachfolger von Jack Lang, hat sich die Premiere in Avignon angesehen, und das ist in Frankreich – anders als in Deutschland, das ohne Bundeskulturminister leben muß – ein Politikum.

Seit die Regierung gewechselt hat und seit es auch in Frankreich nur noch ums Sparen geht, ist in den Kulturinstitutionen die große Unsicherheit ausgebrochen. Zwar hat der neue Kulturminister gesagt, er wolle alles und vor allem die dezentrale Kulturförderung seines Vorgängers fortschreiben, wenn es allerdings ums Detail geht, schiebt er Entscheidungen auf oder verwickelt sich in Widersprüche, wie ihm Libération attestiert. Gemeint ist zum Beispiel der Fall Jacques Lassalle, der seit drei Jahren die Comédie Française leitet und dessen Vertrag seit Anfang des Monats hätte verlängert werden müssen. Toubon zögert, vielleicht auch deshalb, weil in Frankreich schon seit einiger Zeit die Frage im Raum steht, wie es mit der traditionsreichen Pariser Nationalbühne weitergehen soll. Schließen kann man sie nicht, was aber soll aus ihr werden, und wie soll sie sich neben renommierten Bühnen wie dem „Odeon“ und dem „Théatre Nationale de la Colline“ behaupten?

Und so war es denn, als stünde in Avignon eine Entscheidung an. Der neue Festivalchef Bernard Faivre d'Acier hatte die Comédie zum ersten Mal nach acht Jahren wieder eingeladen – man stelle sich vor, die dem Papier nach wichtigste Bühne Deutschlands müßte so lange dem Berliner Theatertreffen fernbleiben. Vom Applaus am Ende der Vorstellung allerdings wußte man nicht so recht, ob man ihn als Solidaritätskundgebung deuten sollte, oder ob er tatsächlich der Inszenierung galt. Der Grund: Lassalle hat einen „Dom Juan“ für Avignon zubereitet, wie er langweiliger wohl kaum möglich ist, und er hat vorgeführt, wie man am Ehrenhof des Papstpalastes scheitern kann. Die Riesenbühne ist eine der größten Schauspielarenen Europas, auf der man dank der exzellenten Akustik allerdings auch fein strukturiert inszenieren kann. Lassalle traute wohl der Sache nicht und verlegte sich auf ein Deklamationstheater, in dem Dom Juan als Schönling daherkommt, während sein Diener Sganarelle ein rumpelnder Libero für alle Fälle sein darf und Donna Elvira mit einer jungen Schauspielerin hoffnungslos fehlbesetzt ist. Und all das, obwohl Molière schon zu seiner Zeit den Skandal wagte, Dom Juan als einen Libertin zu zeigen, dem der Freiheitsgedanke zum Alibi für Genußsucht wird; obwohl Sganarelle ein Diener ist, der intelligenter als sein Herr zu sein scheint; und obwohl Donna Elvira schon bei Molière eine Frau ist, die zwar liebesgeschwächt auf den Spuren des Dom wandelt, aber doch zu argumentieren weiß.

In einem Interview mit La Croix (eine kirchennahe katholische Tageszeitung) wird Lassalle gefragt, warum er den Dom Juan mit Andrej Seweryn, einem polnischen Schauspieler, besetzt habe. Das Merkwürdige an seiner Antwort: Er rechtfertigt sich und betont, Seweryn besitze schon seit zehn Jahren die französische Staatsbürgerschaft. Auch in Frankreich greift ein Klima der Intoleranz um sich, infolge der zunehmenden sozialen Spannungen kam es jüngst zu gewalttätigen Ausbrüchen in Lyon und Paris, und konservative Kreise verlangen immer offener, Ausländer müßten sich der französischen Kultur anpassen, um weiterhin in Frankreich leben zu können.

Unsichere Zeiten, wie gesagt, und wie immer, wenn keiner weiß, wohin die Reise geht, werden Podiumsdiskussionen veranstaltet. In Avignon trifft man sich dazu im „Haus des Theaters“, das gerade noch vor der großen Sparwelle fertiggestellt wurde. Diesen Sommer dient es zum ersten Mal als Forum, die Fragestellungen auf den Podien lauten etwa: „Wo sind sie, die zeitgenössischen Autoren?“ (Merkwürdigerweise fragt sich das auch der zeitgenössische Autor Enzo Cormann.) Hauptsächlich aber geht es darum, wie es mit dem Theater überhaupt weitergehen soll. Darüber diskutieren sie täglich, die Regisseure Frankreichs und die gewerkschaftlich organisierten Techniker, um nur einige der Interessengruppen zu erwähnen, für die Avignon während der Sommerwochen zur Plattform wird.

Eine berechtigte Frage steht dabei im Vordergrund: Wird die unter Jack Lang geschaffene dezentrale Vielfalt des Theaters, die inzwischen Nährboden für viele der künstlerisch interessanten Entwicklungen in Frankreich ist, durch die neuen Sparzwänge wieder vernichtet? Vieles steht zur Disposition, während sich der neue Kulturminister noch in der Rolle der obersten Sphinx übt. Daß er kaum Konkretes sagt, mag viele Gründe haben, aber wahrscheinlich weiß er selbst noch nicht so recht, wohin es gehen soll.

Ein Theater allerdings, so zumindest der Eindruck, steht sicher in der Sparbrandung: Das Pariser Nationaltheater „Théatre de la Colline“, das hauptsächlich zeitgenössische Stücke im Programm hat und dessen Leiter, Jorge Lavelli, mit Edward Bonds neuestem Stück „Ollies Prison“ nach Avignon gekommen ist (Besprechung folgt). Bond geht es darum, wie Aggressionspotentiale entstehen und wie es, vermeintlich völlig unmotiviert, zu Gewaltausbrüchen kommen kann – ein eminent wichtiges Stück. Wie es um uns bestellt ist, will auch ein polnischer Regisseur in Frankreich zeigen. Wladislaw Znorko zählt mit seiner Truppe „Cosmos Kolej“ seit etwa zwei Jahren zu den jungen Stars der Szene, er geht ganz eigene Wege, wie auch jetzt in seiner „Schweyk“-Adaption, von der es im Untertitel heißt, sie sei eine mögliche Version des Endes von Haseks Roman. Schweyk kommt am Ende der Welt an, und dazu hat Znorko zwei Ideen: Zuerst ist er auf einer langen Reise im Viehwaggon durch die Wirren des Ersten Weltkrieges und lacht immer naiv. Seine Kameraden, der Hauptmann und er werden geschüttelt, versuchen zu schlafen und verrichten auf Eimern komödiantisch ihre Notdurft. Immer wenn der Zug hält, geht die Waggontür auf, Welt und Geschichte passieren Revue.

Znorkos Schweyk ist einer, der einen Platz in der ersten Reihe hat, im zweiten Teil allerdings sind wir am Ende von Welt und Geschichte angelangt, die Bilder haben das Laufen verlernt. Znorkos Tableau hierzu: ein ausgewachsener und im Kiesbett gestrandeter Bus, um den sich die Personage des ersten Teils plus Don Quichote bewegen, als bewege sie nichts mehr. Und tatsächlich hat Znorko mit diesen zwei beeindruckenden Tableaus, Bewegung und Stillstand, Krieg und Nicht-Krieg, die Gesellschaft Osteuropas zur Zeit der Donaumonarchie und zur Zeit der kommunistischen Regimes gebannt. Eines allerdings konnte er nicht ganz verbergen: Alleine nur Tableus zu zeigen ist nicht abendfüllend.

Folgt man dem ersten Eindruck, den das Programm des neuen künstlerischen Leiters hinterläßt, dann hat Bernard Faivre d'Acier die grobe Struktur des Festivals beibehalten. Allerdings wurden die eher kostspieligen Sonderreihen gestrichen; auffällig auch, daß er viele Inszenierungen einlud, die sich mit zeitgenössischen, zumeist „ausländischen“ Autoren, auseinandersetzen. Einer davon ist Gao Xingjian, ein 52jähriger chinesischer Autor, der als DAAD-Stipendiat in Berlin war und seit einiger Zeit in Paris lebt. In China waren seine Stücke zum Teil verboten, sein „Au bord de la vie“ („Am Rande des Lebens“), der Monolog einer Frau in Duras-Diktio, trägt Spuren seines Frankreichaufenthalts. Sie setzt sich mit ihrem Leben und einem Mann auseinander, den sie nie zu fassen bekam. Alain Timar hat den Monolog am „Rond Point-Théatre Renaud-Barrault“ in Paris inszeniert und eine Sprech-, Bild-, Tanz-Collage daraus gemacht. Das Gegenüber der Frau wurde zum Clown, zum Mann, der in einem Mantel am Kleiderbügel hängt. Neben seinen marionettenhaften und clownesken Bewegungen wird der von einer Schauspielerin gesprochene Monolog durch die Bewegungen einer Tänzerin strukturiert, die eigentliche Hauptakteurin allerdings ist eine Frau in Schwarz. Sie bedient den offen sichtbaren Schnürboden im kleinen Théatre des Halles, läßt den Mann hüpfen, Bilderrahmen und Leinwände von der Decke schweben. Ein Theater hinter dem Theater, das man nur sehr selten zu sehen bekommt.