Lieber obdachlos im Kiez als ostwärts

Seitdem Berlin-Kreuzberg zur City mutiert, sollen die dortigen Rollheimer in östliche Randbezirke weichen / In den Augen der Berliner CDU sind die Wagenburgen „bewohnte Müllkippen“  ■ Aus Berlin Corinna Raupach

Kopfschüttelnd bleibt der ältere Herr stehen und mustert die bunten Wagen und Zelte aus sicherer Entfernung. „Das ist doch ein Schandfleck, das gehört hier nicht her“, schimpft er. „So mittenmang gibt es das doch in keiner anderen deutschen Stadt.“ Auch die Berliner Boulevard-Presse ist seit Wochen voller Schilderungen der „Wilden aus der Wagenburg“, der „Penner, Punks und Alkoholiker“, die die „Nachbarn in Angst“ versetzten. Dieter Hapel, Parlamentarischer Geschäftsführer der Berliner CDU, forderte gar, die „bewohnte Müllkippe“ müsse möglichst zügig aus der Innenstadt verbannt werden.

Stein des Anstoßes ist die Wagenburg im Engelbecken, eine der armseligsten der etwa zehn Wagenburgen in Berlin. Auf dem alten Mauerstreifen zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Mitte leben zwischen 30 und 50 Menschen, genau weiß das niemand. Sie hausen in alten Bau-, Wohn- oder Zirkuswagen, in rostigen Bussen oder Zelten, im Dunst verwesenden Hundekots, der über dem ganzen Gelände hängt. Weniger als die Hälfte von ihnen bekommt staatliche Stütze, sie sind auf das Schnorren angewiesen. „Hier kann jeder wohnen, der keine Kacke baut“, erläutert Kiste die Spielregeln des Gemeinwesens. Kacke sind Junkies und Dealer und harte Drogen, Leute, die andere hier beklauen oder Kopf- und Kleiderläuse einschleppen, und Vergewaltiger.

Gerade wird aufgeräumt. Die auf dem Boden verstreut liegenden Flaschen werden in Einkaufswagen gepackt und in Richtung Müllcontainer gekarrt. „Scheiße“, brüllt einer, als eine Flasche zerbricht, fährt sich durch die blaugelb gefärbte Tolle und sammelt die Scherben sorgsam ein: „Die Hunde könnten sich sonst die Pfoten zerschneiden.“ Außer Flaschen, Kippen und Fäkalien der Bewohner türmen sich verschimmelte Matratzen und Sofas, alte Kühlschränke, Bauschutt und prall gefüllte Mülsäcke, die von Fliegen umschwirrt sind. „Das ist alles nicht von uns“, sagt Robert verbittert. Nicht nur Menschen aus der Nachbarschaft laden hier ihren Müll ab, ganze Lastwagen kommen nachts und packen aus.

Dem Berliner Senat ist die Wagenburg schon lange ein Dorn im Auge. „Die derzeitige Nutzung des Engelbeckens ist ein Ärgernis“, sagt Norbert Schmidt, Sprecher der Innenverwaltung, und verweist auf Umweltschäden durch auslaufendes Öl und Schweißarbeiten auf dem Gelände. Schon Anfang 1991 beschloß die große Koalition, die innerstädtischen Wagenburgen aufzulösen. Noch in diesem Jahr soll es zumindest für die Wagenburg im Engelbecken soweit sein. Als potentieller Ersatzstandort wurde im Bezirk Pankow ein ehemaliges Stadtgut ausgeguckt.

Doch die Wagenburgler wollen in Kreuzberg bleiben. In der vormittäglichen Sonne sitzen zwölf BewohnerInnen und lassen die ersten Milch- und Bierflaschen kreisen. Eine junge Frau schläft auf der Erde, den Kopf in einen schmutzigen Pullover vergraben. „Ehe ich aus Kreuzberg weggehe, werde ich lieber wieder obdachlos“, sagt ein hagerer Mann, dessen gräuliches Unterhemd die Tätowierungen auf den Armen freigibt. „Das ist unser Kiez, hier wissen wir, wo wir schnorren können“, so sein Nachbar mit den neongelben Locken.

„Nach Pankow? Da kennen wir doch keinen“, sagt ein anderer, ganz in Schwarz, der eben noch mit dem Diabolo jongliert hat. „Das ist voll die Pampa.“ Kiste fürchtet, daß sie sich dort nachts nicht auf die Straße trauen können, „wegen der Faschos“. Drei Stunden müsse er zu seiner Arbeitsstelle fahren, so ein Gerüstbauer. „Da ist die nächste S-Bahn-Station über zwei Kilomenter weit weg.“ Für die Hunde und das Getier sei es bestimmt toll in Pankow mit Natur und Wald, gibt ein anderer zu bedenken.

Bruder Kamillo und Schwester Maria sind durchaus bereit umzuziehen. „Aber nicht in ferne Außenbezirke.“ Barfuß und in braunen Kutten, den Rosenkranz am Gürtel, leben die beiden Mitglieder der ökumenischen Emmaus-Bewegung in trauter Eintracht am Rand der Wagenburg. Sie wurden berufen, als Arme unter die Armen zu ziehen.

Ein paar Wagen weiter wippt der Zauberer Ingo Magino kunstvoll auf einem Sperrholzbrett über einem PVC-Rohr und pflückt dabei Blümchen. Auch ihn schreckt der Umzug weniger. Seit zwei Jahren lebt er hier, eigentlich schon fast zu lange, findet er. Verächtlich blickt er auf die „Schuhkartons“, die Wohnsilos auf der anderen Seite des Platzes. In seinem Zirkuswagen regnet es durchs Fenster, die Risse in der Decke sind notdürftig abgedeckt, und auf dem Boden liegt der Staub millimeterdick. An der Wand hängen samtene Jacketts mit glitzerndem Paillettenstreifen, neben seinem ersten eigenen Plakat: Laufenburg, 1987. Sein Kinderzirkus ging mit seiner Ehe vor die Hunde.

Ein älterer Mann im grünen T-Shirt, das über dem Bauch spannt, und mit gepflegtem Vollbart klammert sich an die Bierflasche: „Ich geh' da jedenfalls nicht allein hin. Hauptsache, wir bleiben zusammen, oder? Was sollen wir denn sonst machen, uns will doch keiner.“ Auch Kiste ist der Zusammenhalt am wichtigsten. „Wenn mal jemand krank ist, klopfen die anderen am Bauwagen und gucken nach. Oder es wird zusammengeschmissen und mal 'ne Flasche Multitrunk gekauft.“ Und Robert hat eine Gemeinschaft wie hier weder im Heim noch im besetzten Haus gefunden. Er blickt auf seinen schneeweißen Zirkuswagen mit leuchtend blauem Dach. „Bevor sie mir mein Zuhause zusammenschieben, zieh' ich den Wagen doch lieber selbst nach Pankow.“

Der Bezirk Mitte plant auf dem bisherigen Rollheimer-Gelände eine Sportanlage und einen Spielplatz und will damit am liebsten gleich anfangen. „Die Planungen sind alle fertig“, sagt Stefan Rauner, Leiter des Amtes für Grünflächen und Umweltschutz. Doch der Bezirk strebe eine „einvernehmliche Lösung“ an. „Wir werden erst bauen, wenn das Gelände in Pankow fertig hergerichtet ist.“ Auf dem vor 13 Jahren stillgelegten Stadtgut Schönerlinde sollen die Ställe abgerissen und Strom- und Wasseranschlüsse gelegt werden. Drei Streetworker sollen für aufsuchende Sozialarbeit eingestellt werden.

Vertreter der katholischen Gemeinde St. Michael, deren Gemeindehaus direkt neben dem Engelbecken steht, befürchten, daß die Umsiedlung fatale Folgen hätte. „Die Leute brauchen ein Umfeld, von dem sie leben können“, sagt Gemeindereferent Hans-Joachim Ditz. Im Engelbecken lebten vor allem Leute, die durch das staatliche soziale Netz gefallen seien. Die Wagenburg biete Schutz vor der Vereinsamung auf der Straße. In Kreuzberg stand ihnen nicht nur das Gemeindehaus und die Kleiderkammer offen, auch Gemeindemitglieder und Nachbarn brachten öfter Lebensmittel. „Schade, daß es offensichtlich nicht möglich ist, verschiedene Lebensentwürfe nebeneinander zu tolerieren“, meint Ditz.

In Pankow steht man dem Zuwachs mit gemischten Gefühlen gegenüber. Bürgermeister Jörg Richter (SPD) hat bereits einen Forderungskatalog an den Senat formuliert, in dem er auf Sanitäranlagen, Duschen und einen Versammlungsraum drängt. Im Winter müsse für Brennholz gesorgt werden, damit niemand in die Lauben einsteige. „Wir haben ja keine Erfahrung mit diesen Problemen.“ Richter hat im Vorfeld Vertreter von Polizei, Treberhilfe, Kirchengemeinden und Feuerwehr sowie den Amtsarzt eingeladen, um bei ihnen um Verständnis für die neuen MitbürgerInnen zu werben. „Wenn nicht Hunderte herkommen, können wir das Problem vernünftig lösen.“

Das ehemalige Stadtgut Schönerlinde liegt tief im Berliner Nordosten, direkt gegenüber dem Forstamt Schönerlinde und einem Naturschutzgebiet mit Wald und See. In der Nähe liegen Laubenkolonien, der S-Bahnhof Karow und die nächste Telefonzelle sind anderthalb Kilometer entfernt. Einer der wenigen Nachbarn ist skeptisch. Er habe nichts gegen die Leute. „Aber in dieser Gegend, wo jeder seinen Hund hinter dem Gartenzaun und seinen Kaktus vor dem Haus hat, wird man es den Leuten nicht einfach machen.“ Ein anderer, Waldarbeiter von Beruf, bleibt gelassen: „Die sollen kommen, wenn sie friedlich bleiben.“

Währenddessen rollten vor einer Woche schon die ersten Wohnwagen der Wagenburg am Potsdamer Platz gen Pankow und nahmen dort Quartier. „Rollheimerdorf“ steht in blauen Lettern auf einem großen Schild, das an einem der verfallenen Schweineställe aufgehängt ist. „Wir haben gehört, daß das Gelände für die Wagenburg vorgesehen ist, und da sind wir gleich hergefahren“, sagt Christoph, ein junger Mann mit blonden Rasta-Locken. Gerade die Verbindung von Stadt und Land habe sie gereizt. Wenn man hier die Wagentür öffne, schaue man gleich ins Grüne, andererseits seien sie in 18 Minuten mit dem Auto am Potsdamer Platz.

Im Windschatten der Schweineställe sitzen sie an einer Feuerstelle, schnippeln Gemüse in einen Kessel und schmieden Pläne. „Wenn wir hier sind, können die außerdem nicht mehr an uns vorbei planen“, hofft ein anderer. So solle etwa die meterhohe Vegetation, die seit 13 Jahren wuchert, erhalten bleiben, ebenso einige der Gebäude. „Wir wollen hier eine Holz- und eine Metallwerkstatt einrichten“, sagt Handwerker Axel. Außerdem soll ein kleiner Laden eröffnet werden, für die nötigste Versorgung.

„Wir wollen nicht die Fehler von anderen Wagenburgen wiederholen, sondern gleich ein gutes Konzept haben“, sagt Axel. Eine vorbildliche Mülltrennung und -entsorgung schwebt ihnen vor und ein Komposthaufen mit Regenwurmzucht. Auch die Wagenburgler aus dem Engelbecken lebten lieber nicht zwischen Müllbergen, vermuten sie. Der Gymnasiast Stefan will im nächsten Jahr schon Bienenvölker halten. Studiert er erst Landwirtschaft, so plant er Projekte mit den Bauern im Umland. Christophs Wagenbeete stehen noch am Potsdamer Platz. In Kisten auf Rädern hat er Brokkoli und Salat gepflanzt.

Gleich am ersten Tag stellte sich die Gruppe den Nachbarn vor, auch mit dem Kontaktbereichsbeamten und dem Bürgermeister machten sie sich bekannt. „Wir haben nur gute Erfahrungen gemacht“, sagt Christoph. Sogar mit der Pächterin des Karower Kulturhauses „Ottomar Geschke“, in dem sich die rechte Szene der Umgebung trifft, haben sie gesprochen, denn in den Schweineställen weiter hinten entdeckten sie Hakenkreuze und andere Schmierereien. „Wenn man mit einem geredet hat, schmeißt der keinen Molotowcocktail in die Bude“, hofft einer. Für den Notfall verfügen sie auch über ein Funktelefon.

Ob die müllsortierten und projektorientierten Vorstellungen bei den WagenburglerInnen aus dem Engelbecken auf Gegenliebe stoßen, muß sich jedoch erst zeigen. Auch ob die Herzen der Pankower BürgerInnen weiterhin gewogen bleiben, wenn nun auch an der S-Bahn-Station gebettelt wird, steht noch aus.