Israel führt einen „dosierten“ Feldzug

Mit ihren Luftangriffen gegen Ziele im benachbarten Libanon will die israelische Regierung Beirut zum Eingreifen gegen die Hisbollah-Milizen zwingen, die nach wie vor militärischen Widerstand gegen die israelische Besatzung Südlibanons leisten.

Am Wochenende hat die israelische Armee die schwersten Raketen- und Bombenangriffe auf den Libanon seit dem Krieg von 1982 begonnen. Die Offensive, die offiziell gegen militärische Stützpunkte verschiedener Gruppierungen geführt wurde, richtete in libanesischen Wohngebieten und palästinensischen Flüchtlingslagern großen Schaden an. Mindestens 50 Menschen wurden getötet und über hundert verletzt, so wird berichtet. Die israelische Armee griff nicht nur unmittelbar nördlich des von ihr besetzten Gebietes im Südlibanon an, wie sie das seit Jahren alle paar Wochen tut, sondern auch im Nordlibanon und in der Bekaa-Ebene im Ostlibanon.

Die Milizen der libanesischen Hisbollah griffen Nordisrael mit Raketen an. Zwei Menschen starben, 23 wurden verletzt. In der Region von Kiriat Schmoneh mußten 150.000 Israelis die Nacht in Bunkern verbringen, im Libanon haben sich die Leute in Ermangelung solcher Sicherheitseinrichtungen wieder einmal auf die Flucht begeben müssen.

Nicht nur sein Ausmaß unterscheidet diesen jüngsten Angriff von früheren israelischen Militäraktionen gegen den Libanon; diesmal wurde eine Verletzung der sogenannten „roten Linien“ in Kauf genommen, die nach einem informellen Abkommen zwischen Israel und Syrien die militärischen Einflußgebiete der beiden Besatzungsarmeen im Libanon markieren. Die israelische Armee hat diesmal Angriffe in den Ostlibanon unternommen, die nach dieser unter US-Vermittlung zustande gekommenen Absprache von syrischen Truppen kontrolliert wird. Vier oder fünf syrische Soldaten kamen dabei ums Leben. Am Sonntag abend erwiderte die syrische Luftabwehr zum ersten Mal das Feuer.

Gestern, einen Tag nach dem Beginn der israelischen Angriffe, hatte die israelische „Operation“ bereits einen Namen: Din ve- Cheschbon, das heißt „Rechenschaft“ und „Abrechnung“. Die Bezeichnung ist zwar weniger euphemistisch als die des 82er Libanon-Feldzuges, der kurzerhand zu einer Aktion für „Frieden in Galiläa“ ernannt wurde. Doch die offizielle Begründung der jetzigen Angriffe auf den Libanon gleicht der, die in diesem Kennwort zum Ausdruck kam. Es gehe darum, die Katjuscha-Angriffe auf die israelische Bevölkerung im Norden Israels (Galiläa) unmöglich zu machen, erklärt die israelische Regierung. Gleichzeitig betont sie, daß sie nicht die Absicht habe, im Rahmen einer ausgedehnten Kriegsführung Bodentruppen im Libanon einzusetzen. Damit beschwichtigt sie ganz offensichtlich auch Ängste der israelischen Bevölkerung, die sich während des 82er-Krieges gegen den Libanon zum ersten Mal zu Hunderttausenden an großen Anti-Kriegs-Demonstrationen beteiligt hatte. Diesmal sei die Regierung ganz Herr der Lage, heißt es in Jerusalem, mit Blick auf 1982, als es in der israelischen Armee mehr Tote als bei irgendeinem anderen israelisch-arabischen Krieg gegeben hatte. Am gestrigen Montag gab die Regierung der besorgten israelischen Bevölkerung zu verstehen, daß auch Syrien keine militärische Intervention gegen die israelische Übermacht wagen werde.

Der Angriff wurde am Freitag vom Sicherheitskabinett beschlossen und Sonntag früh gegen einige warnende Stimmen von einer Mehrheit in der Regierung bestätigt, die sich von dem Kriegsführungskonzept beeindruckt zeigte, das Regierungschef und Verteidigungsminister Rabin mit seinem Stabschef Ehud Barak neuerdings vertritt. Nach ihrem Konzept sollen dem großen Luftangriff vom Sonntag weitere „operative Schritte“ zu Land, See und aus der Luft folgen. Damit wiederum sollen Reaktionen der libanesischen Gegenseite und den umliegenden arabischen Staaten entsprechend „dosiert“ werden.

Vor allem hat Israel vor einer Beschießung Nordisraels gewarnt. Während des israelischen Luftangriffs am Sonntag gegen Stellungen und Orte im Süd- und Ostlibanon wurden nach israelischen Angaben bereits über 100 Katjuscha- Raketen aus dem Libanon auf das israelisch besetzte Gebiet im äußersten Süden des Libanon und auf die Nordgaliläa-Region abgefeuert. Damit hatte die israelische Armee dann den „Grund“ zur Ausweitung ihrer Offensive: Mit Kampfflugzeugen, Hubschraubern, schwerer Artillerie und mit Kriegschiffen griff sie in der Nacht zum Montag die Regionen von Tripoli, Beirut und Sidon an.

Eskalation fordert Gegenaktionen heraus

Nach einer Sondersitzung forderte die israelische Regierung dann gestern früh die Bevölkerung nördlich des israelisch besetzten südlibanesischen Gebietes auf, ihre Orte vor 10.30 Uhr zu verlassen. Das deutet auf die Planung eines massiveren israelischen Angriffs auf diese dicht besiedelten Gebiete hin, in denen neben zahlreichen Dörfern auch mehrere große palästinensische Flüchtlingslager liegen, die schon in der Nacht zum Montag besonders heftig beschossen wurden. Die israelische Regierung will mit dem Angriff Druck auf die libanesische und die syrische Regierung ausüben, um sie zum Eingreifen gegen die Hisbollah-Milizen zu zwingen, die nach wie vor militärischen Widerstand gegen die israelische Besatzung des Südlibanon leistet.

Einige Militärexperten in Israel bezweifeln jedoch, daß diese Art der Eskalation das Vergeltungsfeuer mit Katjuscha-Raketen zum Schweigen bringt. Die Erfahrung der letzten Jahre hat gezeigt, daß israelische Angriffe im Libanon solche Angriffe nur wahrscheinlicher machen.

Die Führer der israelischen rechten und rechts-religiösen Oppositionsparteien, die von Rabin vor Beginn der kriegerischen Handlungen über Charakter und Ziele des Angriffs informiert wurden, haben ihre Unterstützung zugesagt. Likudführer Netanjahu erklärte am Montag, daß der militärische Kampf gegen Hisbollah und der politische Kampf gegen Damaskus gerichtet sein müsse. Die Möglichkeit einer Eskalation wird von der Opposition durchaus gesehen. Rafael Eitan, Tzomet-Führer und ehemaliger Stabchef im Libanonkrieg 1982, empfiehlt eine „Ausweitung der israelischen Sicherheitszone“ im Südlibanon, mit der Begründung, daß dann die Hisbollah-Raketen nordisraelisches Staatsgebiet nicht mehr erreichen könnten.

Es gibt in der israelischen Regierung noch ein weiteres wichtiges Kalkül bei der jetzigen Aktion: Angesichts des Mitte der Woche geplanten Besuchs von US-Nahostkoordinator Ross in Israel und in Vorbereitung der geplanten Rundreise von US-Außenminister Christopher gibt die militärische Eskalation im Libanon den US- Vermittlern in den festgefahrenen Nahostgesprächen möglicherweise zusätzliche Hebel für eine Weichenstellung zugunsten Israels an die Hand. In den arabischen Hauptstädten des Nahen Ostens hat man Angst vor neuen Kriegen mit Israel und hofft, daß Washington Israel zurückhält. Die israelische Regierung würde sich wohl zurückpfeifen lassen — aber den arabischen Staaten sollen die Vereinigten Staaten dafür natürlich auch einen entsprechenden Preis abverlangen.

Trotz der Befürchtungen, daß Israel wieder in den Sumpf eines größeren „Libanon-Abenteuers“ hineingezogen werden könnte, stellte sich der linksliberale Meretz-Block hinter Rabins Politik. Kritik an dem Angriff kam in der Knesset nur von der „Demokratischen Front“ und der „Arabischen Demokratischen Partei“ – und außerparlamentarisch vom „Gusch Shalom“ (Friedensblock). In ihrer Erklärung heißt es: „So wie früher wird auch der jetzige Angriff kein Problem lösen. Die Regierung hat sich in eine schwierige Situation manövriert, weil sie darauf besteht, die Armee nicht vollständig aus dem Libanon zurückzuziehen.“ Amos Wollin, Tel Aviv