Zehntausende im Libanon auf der Flucht

■ Israelische Armee weitet ihre Offensive auch auf den Norden und Westen des Nachbarlandes aus

Beirut/Jerusalem (AFP/taz) – Im Libanon hat nach Beginn des größten israelischen Angriffs seit dem Libanonkrieg im Jahre 1982 auch die größte Fluchtbewegung eingesetzt. Die israelische Armee weitete seit der Nacht zum Montag ihre am Sonntag begonnene Offensive, die sich zunächst gegen Orte und militärische Stellungen im Süden und Osten des Libanon richtete, auf „Ziele“ im Norden und Westen des Landes aus. Als Begründung führt die israelische Regierung an, daß die Beschießung Nordisraels mit Katjuscha-Raketen der libanesischen Hisbollah „trotz der Angriffe“ nicht aufgehört habe.

Um den israelischen Bomben- und Raketenangriffen zu entkommen, flüchteten in den letzten beiden Tagen Zehntausende aus ihren Wohnorten. Libanesische Krankenhäuser teilten gestern mit, daß mindestens 28 Menschen getötet und 90 verletzt worden seien. Nach anderen arabischen Quellen waren bereits gestern 50 Tote zu beklagen und mindestens 100 Verletzte.

Vorgestern und gestern griff die israelische Armee militärische Stellungen der Hisbollah nördlich der Demarkationslinie zum israelisch besetzten Südlibanon, an der Küste nahe der Stadt Tyrus und in der syrisch kontrollierten Bekaa-Ebene an. Palästinensische Flüchtlingslager im Südlibanon, an der Küste und im Nordlibanon wurden ebenfalls bombardiert, darunter die Lager Al-Baz bei Tyrus, Ain-Al-Hilweh bei Sidon und die Lager Baddawi und Nahr-Al-Barid bei Tripolis. Außerdem wurden libanesische Dörfer und Städte im Süden, an der Küste und im Landesinneren angegriffen, darunter die Stadt Nabatiye. Ziel der israelischen Offensive waren zudem syrische Militärstützpunkte im Osten des Landes. Die syrische Luftabwehr hatte schon am Sonntag abend das Feuer erwidert. In der Küstenregion operierte die israelische Armee vor allem von Schiffen aus, im übrigen setzte sie Jagdbomber und Kampfhubschrauber ein.

Gestern früh forderte die israelische Armee die Bewohner Südlibanons und der südlichen Bekaa-Ebene ultimativ auf, ihre Häuser noch am Vormittag zu räumen, falls diese „in der Nähe von terroristischen Zentren“ oder „Stellungen anti-israelischer Organisationen“ gelegen seien. Diese unmißverständliche Drohung verstärkte die Fluchtbewegung weiter. Das Gebiet um Nabatije, in dem normalerweise etwa 50.000 Menschen leben, war bereits am späten Vormittag fast menschenleer. Neben Krankenwagen waren nur noch wenige Fahrzeuge mit Menschen unterwegs, die sich nach Nordwesten in Richtung Sidon absetzen wollten. Bei Tyrus verließen zahlreiche Familien die Dörfer an der Demarkationslinie zum israelisch besetzten Südlibanon. In der Stadt warteten sie auf Fahrzeuge, die sie in weniger gefährdete Gebiete bringen sollten. Im Südwesten der Bekaa-Ebene versuchten die Menschen, aus der Stadt Machghara zu entkommen. Als Hochburg der proiranischen Hisbollah-Miliz ist sie ein besonders häufiges Ziel israelischer Jagdbomber.

Gestern trafen die ersten Flüchtlinge aus den verschiedenen Landesteilen bereits in Beirut ein. Fahrzeuge mit schwerbeladenen Dachgepäckträgern passierten die südliche Stadtgrenze. Nur in der Hauptstadt, so glauben sie, seien sie vor den israelischen Kampfflugzeugen sicher.

Gleichzeitig setzte die libanesische Hisbollah ihre Angriffe mit Katjuscha-Raketen auf Nordisrael fort und beschoß dabei vor allem die Region von Kiryat Schmoneh und Naharrya. 150.000 Israelis mußten die Nacht zum Montag in Bunkern verbringen. Bei den Angriffen wurden zwei Menschen getötet und 23 verletzt. Eine der Raketen explodierte in Kiryat Schmoneh nahe dem Wagen des israelischen Präsidenten Ezer Weizmann, der den Bewohnern der Stadt durch einen Besuch seine Solidarität bekundete.

Die israelische Regierung will offenbar mit ihrer Offensive die libanesischen und syrischen Machthaber dazu zwingen, die im Südlibanon operierende Hisbollah kaltzustellen.

Die libanesische Regierung hat vor diesem Hintergrund eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt. Tagesthema Seite 3