: Himalaya-Region unter Wasser
Nach dem großen Regen drohen Hunger und Krankheit / Ökologen warnten schon lange vor Erosion in Nepal / Monsun früher als erwartet ■ Von Bernard Imhasly
New-Delhi (taz) – Die Hütten mit den blauen Pastikdächern des UNO-Flüchtlingswerks stehen auf einer Geröllhalde des Timai-Flusses. 8.000 Menschen aus Bhutan leben in dem Lager, das am Fuße der Himalya-Region liegt und damit mitten im Überschwemmungsgebiet. Die schwersten Regenfälle seit Menschengedenken haben große Teile Nepals zu einem riesigen Notstandsgebiet gemacht. Die Flüchtlinge aber hatten Glück: der Bach hat sich in den letzten Tagen so tief ins Gelände eingegraben, daß sie sich auf einer kilometerbreiten Halde relativ sicher fühlen können. Am vergangenen Sonntag beschlossen sie, für die flutgeschädigten Nepalesen eine Tonne Reis und 1.000 Rupien zu stiften – ein großes Opfer für Menschen, die mittellos aus Bhutan angekommen sind und nun schon über ein Jahr von den Lebensmittelrationen der Hilfswerke leben müssen.
Auch wenn die Niederschläge vorläufig zurückgegangen sind, ist für Millionen von Menschen die Gefahr von Hunger und Krankheit akut gestiegen. Die meisten Opfer der Fluten leben in den unzugänglichen Hügelgebieten, die selbst in der Tockenzeit nur schwer zugänglich sind, oder sie wohnen weiter stromabwärts in der Tiefebene, in der sich die Wasser in den großen Strömen sammeln: dem Brahmaputra in Ostindien und Bangladesch, dem Yamuna und Ganges in Nordindien und dem Fünfstromland des Punjab.
Während diese Schwemmgebiete die jährlichen Fluten mit Resignation erwarten und sich Armee und Verwaltung darauf einigermaßen einstellen können, waren die heftigen Niederschläge in Nepal von einer Intensität, die die Bewohner völlig unvorbereitet traf. Zur Katastrophe aber wurde der diejährige Monsun vor allem durch Faktoren, auf die Ökologen schon lange hinweisen: Trotz seiner imposanten Gebirgskulisse ist der Himalaya eine geologisch junge Formation, in der die tektonischen Bewegungen noch sehr aktiv sind.
Dies äußert sich nicht nur durch häufige Erdbeben, sondern wird auch an der Brüchigkeit des Gesteins deutlich. Die Felsen sind extrem gefaltet, steil fallen sie Berge in schmale Talsohlen ab. Entsprechend wachsen hier nur wenig Gras und kaum Bäume. Die Bevölkerung Nepals hat sich in den letzten Jahren vermehrt, und weil das Land nur über wenig fruchtbares Ackerland verfügt, wurde zunehmend auch die bodenbindende Vegetation in dieser Gegend immer mehr angegriffen. Die hohe Erosion und die extreme Talfaltung erlauben praktisch keine Absickerung des Wassers in den Boden. Statt dessen wurden die Niederschläge, die der diesjährige außerordentliche Regen brachte, direkt zu Tal und in die Flußrinnen gespült. Mit Niederschlagsmengen, die in 48 Stunden ein Viertel des Jahresdurchschnitts erreichten, schwollen die Flüsse innerhalb von Stunden zu neun Meter hohen Sturzwellen an und und rissen Brücken und Häuser mit.
Durch die Zerstörungen am gebirgigen Oberlauf aber wurden die Wassermassen dieses Jahr auch für die besser vorbereiteten Einwohner der Tiefebenen rasch zur Katastrophe. Außerdem werden die heftigsten Niederschläge normalerweise viel später – Ende August – erwartet; die Maßnahmen zur Flutregulierung waren kaum angelaufen. Und die Wassermengen lagen weit über den langjährigen Spitzenwerten: Bei den Schleusen von Madhopur wurden Werte von über 400.000 Kubikfuß pro Sekunde gemessen – die Alarmstufe liegt bei 100.000 Kubikfuß pro Sekunde. Die Wassermassen traten rasch über die Ufer und rissen Breschen in die Kanäle.
Der Grundwasserspiegel drückte über die Bodenoberfläche durch, überflutete die noch jungen Aussaaten von Reis, Mais und Baumwolle und zerstörte Tausende von Pumpen. Im Punjab allein liegen eine halbe Million Hektar und rund 2.600 Dörfer unter Wasser, und der Ernteausfall wird auf mindestens 400 Millionen Dollar geschätzt. Dazu kommen eine Reihe von Städten in tieferliegenden Regionen, die während einer Woche bis zu zwei Meter im Wasser standen, obwohl kein großer Fluß in der Nähe liegt. Das weitverzweigte Kanalnetz, das aus dem Punjab die Kornkammer Indiens gemacht hat, sorgte nun auch dafür, daß sich die Überschwemmungen über den ganzen Staat ausbreiteten.
Die Zahl der Ertrunkenen geht in die Tausende. Millionen von Menschen, die über Zehntausende von Quadratkilometern verteilt sind, sind von allen Verbindungen zur Außenwelt abgeschnitten. Nahrungsmittel konnten wegen der geringen Vorbereitungszeit kaum in Sicherheit gebracht werden. Das Fehlen von Trinkwasser schafft die akute Gefahr von Krankheiten wie Cholera und Malaria. In bestimmten Regionen müssen keine Epidemien oder Hungersnöte befürchtet werden: Im Kathmandu-Tal, das seit zehn Tagen von seinen Versorgungszentren abgeschnitten ist, liegen genügend Lebensmittel in den Lagerhäusern.
Im Punjab sorgen große Armee- Kontingente dafür, daß Nahrungsmittel und Medikamente durch Boote und Helikopter auch in abgelegenere Dörfer kommen. Und in den Großstädten wie Delhi genügt nur schon die Nähe von Radio und Fernsehen, um die Verwaltung rasch Hilfsmaßnahmen organisieren zu lassen.
Im Osten Indiens und in Bangladesch aber sind die Verhältnisse prekär. In den Hügelzonen von Mizoram und Nagaland sind ganze Talflanken abgerutscht – auch nach dem Ende der Regenfälle werden die Bewohner nicht die Möglichkeit zur Rückkehr haben. Die Ebenen des Deltas sind, in den Worten eines Distriktverwalters aus Assam, nicht mehr als „eine riesige dicke Schlammschicht ohne felsigen Untergrund“ – die Endlagerung der zu Tal gespülten Gebirgsböden. Hier sinken deshalb erfahrungsgemäß nach dem Abzug der Wassermassen ganze Felder und Dörfer ein, und es gibt wenig Chancen, in der nächsten Trockenzeit wieder anpflanzen zu können. Aber soweit denken zur Zeit weder Betroffene noch die Regierungen: Die Gefahr von Epidemien und Hunger ist akut, und die „normale Krisenzeit“ die Monsunzeit steht erst noch bevor. Der Regen hat nur eine kurze Pause gemacht.
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