Scharping – das Abbild des jungen Kohl

Allensbach-Umfrage: Deutsche Führungskräfte zweifeln an Kompetenz der Regierung / Sehnsucht nach dem „starken Mann“ / Noelle-Neumann sieht Scharping als „jungen Kohl“  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

In den Augen der deutschen Entscheidungseliten hat Kanzler Kohl abgewirtschaftet – aber in der Person von Rudolf Scharping ist Kohl II bereits in Sicht. So lassen sich die Ergebnisse des sogenannten „Führungskräfte-Panel“ zusammenfassen, das die Zeitschrift Capital und Elisabeth Noelle-Neumann vom Allensbacher Institut für Demoskopie gestern in Bonn vorstellten. Seit sechs Jahren befragt das Institut im Auftrag der Zeitschrift dreimal jährlich über 600 sogenannte Führungskräfte. Die „große Überraschung“ bei der jüngsten Umfrage von Juni 1993, so Noelle-Neumann, sei „die sich öffnende Kluft zwischen Wirtschaft und Politik“.

Noch vor drei Jahren stimmten Politiker und Manager in ihren Urteilen weitgehend überein, heute streben sie auseinander. So viel Frust war nie: 74 Prozent aller Führungskräfte sind mit der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung unzufrieden. 75 Prozent der westdeutschen Leader halten die Regierung für zu schwach. 55 Prozent urteilen, der Schuldenberg habe „eine nicht vertretbare Höhe erreicht“.

Helmut Kohl fahre nur noch „auf eingefahrenen Gleisen“, glauben 54 Prozent aller Befragten. Im Osten sind es sogar 60 Prozent. Neben dem Machterhalt, so beobachten es die Führungskräfte, verfolge der Kanzler in erster Linie das Ziel der europäischen Einheit. In den Augen von 57 Prozent der Wirtschaftsvertreter ist Maastricht jedoch bereits „überholt“.

Andere Bundeskanzler, die vor Kohl ähnlich schlechte Imagewerte hatten, hätten stets ihr Amt verloren, meinte Noelle-Neumann. Kohl hingegen „stürzt nicht, weil es keine Alternative gibt“. Da die Umfrage erstellt wurde, bevor Rudolf Scharping zum SPD-Chef gekürt wurde, hatte die Meinungsforscherin darauf verzichtet, den Kanzler und seinen neuen Herausforderer einem Vergleichstest zu unterziehen. Sie ließ Scharping aber an seinen SPD-Rivalen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine messen. Ergebnis: Der neue SPD-Chef gilt als wenig machtorientiert, hat jedoch den Ruf, er sei glaubwürdig und „moralisch integer“.

„Das“, so bilanzierte die 76jährige Demoskopin und Kanzlerfreundin, „erinnert mich ganz merkwürdig an das Bild des jungen Kohl.“ Ein lauter Ruf nach jungem Kohlgemüse läßt sich den Umfrageergebnissen allerdings nicht entnehmen – im Gegenteil. „Wir stellen die Sehnsucht nach dem starken Mann fest“, meinte Capital-Chefredakteur Ralf-Dieter Brunowsky. Die Frage, ob „härtere Politiker“ vom Schlag des Volkswagen-Rüpels José Ignacio López „nützlich“ wären, wurde von 53 Prozent der Wirtschaftler bejaht – obwohl zum Zeitpunkt der Umfrage die Vorwürfe bereits bekannt waren, der VW-Vorständler habe Industriespionage begangen.