Die schweren Tage - 5.Teil: "Baumaterial lag ja genug herum"

■ Folge 6: Freitag, 3o. Juli 1943 - Das Bild vom totalen Krieg

Die Nachricht, deutsche Kampfflugzeuge hätten in der vergangenen Nacht „Ziele in Südengland“ bombardiert, löst in Hamburg keinen Jubel aus. Als „sehr ruhig und durchaus mit einem Willen zur Ordnung“ beschreibt der Schriftsteller Erich Nossack seine Mitbürger in den Tagen und Wochen nach „Gomorrha“.

Die „Feuersturm“-Zone wird Sperrgebiet. Provisorische Mauern wachsen aus den Trümmern der Ziegelhalden von Straßenseite zu Straßenseite und verschließen die noch begehbaren Zugänge. In der Totenstadt verdienen sich die Arbeitskommandos ihre „Sonderzuteilung“ an Alkohol und Zigaretten. An der Ruinenlandschaft vorbei schaukeln Tanklastzüge voller ungerahmter Milch aus dem Umland zu den Versorgungsstellen in die Stadt, in Gegenrichtung rollen die LKW-Kolonnen nach Ohlsdorf, die Ladeflächen voller Leichen. An den Massengräbern bekommen die Fahrer ihre Ladung nur noch pro Fuhre quittiert, die Friedhofsordnung gilt nicht mehr.

Intakt bleibt dagegen die Organisation der Partei. „Sehr geschickt“ lautet ein unverhohlener Kommentar zur vermeintlichen Zielauswahl der Engländer. Die Zentralen und Büros von SA und NSDAP in ihren Prunksitzen an der Alster wurden scheinbar absichtlich ausgespart. Die Gehorsamskette vom Gauleiter zum Blockwart durchzieht auch weiterhin das Chaos. Lediglich die „Schadendienststelle für Fliegergeschädigte“ darf ihre Tätigkeit einstellen. Die Bearbeitung von Verlustansprüchen, so ein Gerücht, sei auf die Zeit nach dem „Endsieg“ verschoben worden.

Nachlöscharbeiten, Trümmerbeseitigung auf den Hauptstraßen, Notreparaturen an den geplatzten Wasserleitungen, Flüchtlingstransporte und Seuchengefahr - das städtische Leben konstituiert sich als permanenter Notstand neu. Häftlinge aus Fuhlsbüttel ergreifen die „Chance“, gegen Straferlaß Hunderte von Blindgängern zu entschärfen.

Über Nacht hat sich das Gros der Bevölkerung in Exilanten und Obdachlose verwandelt. „Wir schliefen am Bahnhof oder in den Trümmern, sind mal hier- mal dorthin eingewiesen worden.“ Die Flüchtlinge tragen das Bild des „totalen Krieges“ in die hintersten Winkel des „Reiches“, dürfen sie doch die „Reichsbahn“ umsonst benutzen. In den kleinen Dorfgemeinden von Mecklenburg bis Oberbayern hält sich nach anfänglicher Betroffenheit die Begeisterung über den Zuzug in Grenzen. Das „preußische Bombenpack“ bringt denn auch weder „Kraft“ noch „Freude“ in die ländlichen Idyllen.

Im Spätherbst wird für etwa die Hälfte der Geflohenen die Wiederansiedlung beginnen, zumeist wenig mehr als ein Einnisten in Kellern und Gartenlauben. Die ingeniöse Konstruktion des britischen Pionieroffiziers P.N. Nissen werden die Hamburger allerdings erst nach Kriegsende kennen- und schätzenlernen. Allenfalls die naheliegende Assoziation zum Ei der Laus rechtfertigt zum jetzigen Zeitpunkt das Wort von der „Nissenhütte“.

Anschauungswillige können heute wieder ohne den Rückgriff auf historische Fotografien einen Eindruck von den Verhältnissen im Hamburg jener Monate gewinnen. Die Bretterbuden- und Bauwagensiedlung auf dem ehemaligen Trümmergrundstück an der Gaußstraße hinter der „Fabrik“ mutet nach fünfzig Jahren wie ein makabrer Treppenwitz der Stadtgeschichte an.

Auch anno '43 greift die „Volksgemeinschaft“ beherzt zur Selbsthilfe: „Baumaterial lag ja in Hülle und Fülle herum“, erfindungsreiche Bastler haben bald „genügend Ziegelsteine und Balken zusammen“, „die Bevölkerung wird zu ,Kumpeln'“.

„Wir leben“ – die in Kreide hinterlassene Nachricht an vielen Ruinen faßt die Stimmung zusammen. Im Oktober werden aus den verkohlten Bäumen entgegen der Jahreszeit Flieder- und Kastanienblüten springen und wieder eine vage Hoffnung aufkommen lassen, daß das Schlimmste überstanden sei. Der „Untergang“ wird in der Perspektive vieler Hamburger wieder ins Alltägliche schrumpfen. Aus dem Brief eines Ehemannes vom 7. August: „Man darf gar nicht drüber nachdenken, unser schöner Hausstand und Deine schöne Wäsche“.

Morgen Folge 7 und Schluß: „Der Führer reagierte unwirsch“.