: Orgie mit Mickey Mouse
■ Edward Bonds "Ollie's Prison" in Avignon uraufgeführt
Seit dem Tod seiner Frau lebt Mike alleine mit seiner Tochter; sie sitzt bewegungs- und sprachlos da, was Mike zunehmend nervös und aggressiv macht. In Edward Bonds neuestem Stück (im Originaltitel heißt es „Ollie's Prison“, in Frankreich „Maison d'arrêt“) ist am Anfang alles auf Verständigung hin angelegt, dann verändert Mike plötzlich den Gang seines Lebens, obwohl er selbst sich nicht ändert und bis zum Ende des Stücks ein Mann bleibt, der wie ein Fremder den Lauf der Dinge verfolgt. So jedenfalls inszeniert es Jorge Lavelli, der das Pariser ThéÛtre Nationale de la Colline leitet, dort hauptsächlich Gegenwartsautoren auf die Bühne bringt und mit Bonds „Maison d'arrêt“ für Aufregung in Avignon sorgt. Wenn Mike seine Tochter erwürgt, setzt er das so in Szene, als habe er sie nur umarmen wollen und dabei zu fest zugedrückt.
Kommunikationsverweigerung ruft Aggression und Gewalt hervor; also wird Mike zum Täter. Nach der Tat ist er ein Anti- Zuccho, der, anders als Bernhard- Marie Koltes Gewalttäter, kein eigenes Aggressionspotential zu besitzen scheint, trotzdem aber immer heftigere und härtere Gewaltausbrüche auslöst. Im Gefängnis erhängt sich ein Mithäftling in der Schlinge, die Mike für sich präpariert hat; am Ende zerlegt ein vermeintlicher Freund Mikes eine Wohnung und prügelt einen Mann zum Krüppel. Das Opfer heißt Olivier, ihn trifft es eher zufällig, denn er hält sich hin und wieder bei Ellen auf, der Mutter des Mithäftlings, der sich erhängte. Zu ihr ist Mike nach seiner Entlassung gezogen, im Schlepptau Frank, den vermeintlichen Freund, der bei Lavelli das Zerstörungswerk in Polizeiuniform verrichtet – eine choreographierte Gewaltorgie mit einem Dominique Pinon, der wie eine Mickey Mouse in Clockwork Orange wütet.
Condition humaine nach dem Mauerfall
Bonds Szenenfolge wurde fürs Fernsehen geschrieben und liegt auf der Linie seiner Äußerungen, in denen er betont, er wolle das heutige Theater eigentlich nicht mehr beliefern, da es in England durch Maggie Thatchers Politik kommerzialisiert und trivialisiert worden sei. Möglicherweise ist das eine Schutzbehauptung, denn Bond wird im angelsächsischen Raum zur Zeit kaum mehr gespielt. Er hat „Ollie's Prison“ trotzdem so geschrieben, daß sich die Geschichte wie in einer antiken Tragödie zwanghaft zuspitzt und eine realistisch situierte Zustandsbeschreibung der condition humaine im ausgehenden Jahrtausend daraus wird.
Bond betont, die Idee sei ihm nach dem Fall der deutschen Mauer und dem Wegfall des Ost- West-Konfikts gekommen, und tatsächlich: Am Beispiel „Mike“ zeigt er den Übergang von Gewalttätigkeit, die aus Konfrontation geboren wird, hin zu nicht situationsbedingter struktureller Gewalt. Jetzt, da offen über den Stalinismus und die Gulags gesprochen werde, könne man als Sozialist auch wesentlich freier über die Gefahren nachdenken, die in demokratischen Systemen lauern, meint Bond, und hat damit auch die wuchernden Nationalismen und Patriotismen im Auge, die für ihn immer „monströser“ werden.
In Richtung Monströsität hätte Lavelli denn auch inszenieren können; aus unerfindlichen Gründen jedoch hat er Bonds Geschichte chic angelegt. Sowohl Mikes Wohnung als auch das Gefängnis und später Ellens Appartement (Bühne und Kostüme: Dominique Poulange) wirken, als habe ein Architekt einen jener neokonstruktivistischen Anbauten entworfen, mit denen heutzutage all die alten Gemäuer erweitert werden, die sich in Südfrankreich und vor allem in Avignon so häufig finden. Vielleicht wollte er dem Publikum damit etwas über den Schock hinweghelfen, den das Stück hervorrufen kann; überzeugender wäre gewesen, es in der Sphäre zu belassen, die Bond im Sinne hatte (mehr Bronx, weniger Westend), und ansonsten auf Didier Sandré zu setzen, der als Mike unspektakulär und doch überzeugend durch das Stück geht – und auf Christiane Cohendy, die die Liebesbedürftigkeit der etwas älteren Vera derart in eine ausfahrend sprunghafte Gestik umsetzt, daß man ihr gerne in die tiefsten Abgründe der Selbstverleugnung folgt. Von Mike kann sie nicht lassen, obwohl der von ihr nichts wissen will.
Erfolg in Frankreich
Der Engländer Bond, einer der wichtigsten Gegenwartsautoren, steht in Frankreich derzeit hoch im Kurs. Zu den Uraufführungen von „Jackets ou la main secrète“ und „Compagnie des hommes“ („Männergesellschaft“ wird es bei uns heißen und soll demnächst erstaufgeführt werden) ist in dieser Saison nun auch „Maison d'arrêt“ gekommen, das Bond für die BBC eingerichtet hat. Bernard Faivre d'Acier, der neue Festivaldirektor in Avignon, sagte während einer Diskussion, er wolle im nächsten Sommer wieder ein Bond-Stück zur Uraufführung nach Avignon holen, was auch eine Antwort auf die ungewöhnlich kontroversen Reaktionen auf „Ollie's Prison“ wäre.
Man echauffierte sich tatsächlich über die Gewalt, die Bond darstellt, und das in der südfranzösischen Hitze – eigentlich ein gutes Zeichen für Bernard Faivre d'Acier, der gleich zu Beginn seiner neuen Direktion (er leitete das Festival schon einmal mehrere Jahre) einen deutlichen Schwerpunkt auf zeitgenössische Stücke legt. Er wolle das beibehalten, sagt er, wenn er es durchhält und die neue französische Kulturpolitik unter Jacques Toubon nicht Druck in eine kommerzielle Richtung machen wird, wie Jean-Marie Horde, Direktor der Bastille-Oper, in einem ganzseitigen Libération-Artikel vermutet, könnte in Avignon ein wichtiges Forum für Gegenwartsstücke entstehen. Jürgen Berger
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