Berliner Politik heißt: Alles oder nichts

Ohne Olympia und Regierung droht der Stadt der finanzielle Absturz. Investoren drosseln bereits ihr Engagement. Der Senat fürchtet Umzugsverzögerung und negativen IOC-Bescheid, verschwendet aber keine Gedanken auf Alternativen  ■ Von Dieter Rulff

Wenn Eberhard Diepgen (CDU) auf die Philosophie seines „Unternehmen Berlin“ zu sprechen kommt, dann verfällt der Regierende Bürgermeister neuerdings schon mal in Galgenhumor. Die Krise, so zitierte er jüngst den Schweizer Dramatiker Max Frisch, ist „ein produktiver Zustand, man muß ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“. Bislang meinte Diepgen, über die notwendigen Zutaten für diese Rezeptur zu verfügen. Die künftigen Rollen Berlins als Hauptstadt und als Austragungsstätte der Olympischen Spiele im Jahr Zweitausend waren die beiden Fixsterne, auf die hin die Senatspolitik über allen täglichen Vereinigungsunbill hinweg ausgerichtet war. Seit jedoch bei Bundesregierung und Bundestag laut über eine Streckung des Umzugsbeschlusses nachgedacht wird, seit beim Internationalen Olympischen Komitee Sydney Berlin auf Rang zwei der Bewerberstädte verdrängt hat, verblaßt der Schein dieser Orientierungspunkte merklich. Trotz der berufsoptimistischen Reden des Bürgermeisters von einem der „bedeutendsten Wirtschaftsstandorte“ Mitteleuropas, an dem sich die alten europäischen Handelswege von Paris nach Moskau und von Stockholm nach Wien kreuzen, finden immer weniger Investoren den Pfad nach Berlin.

Noch vor Monaten, so klagt Bausenator Wolfgang Nagel (SPD), „haben wöchentlich zwei, drei große Investoren bei mir auf dem Schoß gesessen“. Nun lasse deren Interesse, wegen der Unsicherheit des Regierungsumzuges, jedoch merklich nach. Sony hat den Beginn seiner Bauaktivitäten am Potsdamer Platz bereits auf 1995 verschoben, der Vorstandsprecher der Berliner Bank, Wolfgang Steinriede, ortet „große Zurückhaltung“ auch bei Gewerbe und Verbänden. Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) geht davon aus, daß ein Drittel der Investoren, die bereits einen Förderungsbescheid seines Haues in der Tasche haben, mit ihrem Engagement warten, bis die positiven Signale aus Bonn eintreffen. Die Investoren, so das Resumee des Senators, „denken doch im Augenblick, daß in Bonn eine Diskussion geführt wird, die zu einer Aufkündigung des Umzugsbeschlusses führt“.

„Eine schlimme Situation“ sei dies, doch Büroflächen seien nunmal nur gefragt, wenn die Bundesinstitutionen in Berlin seien. In Erwartung von Kohl und Konsorten wird bereits kräftig investiert. 503 Vorhaben mit einer Bruttogeschoßfläche von 13,5 Millionen Quadratmeter sind in der Stadt geplant – eine Verdopplung des Bestandes. Der Büroflächenanteil beträgt rund 9,7 Millionen Quadratmeter, von denen 4,3 Millionen Quadratmeter bereits in zwei bis fünf Jahren auf den Markt gebracht werden. Als vor Wochen beim städtebaulichen Wettbewerb für Berlins renommierten Alexanderplatz gleichfalls Bürohochhäuser das Rennen machten, schlug Nagel bereits Alarm. Er befürchtete ein Überangebot, das langfristig zu Leerstand führen würde.

Sollte die Bundesregierung ihren Umzug nach Berlin verschieben, könnte diese Befürchtung schon bald Realität werden. Denn bereits jetzt ist bei vielen Objekten, für die vor zwei Jahren spekulative Grundstückspreise von bis zu 40.000 Mark pro Quadratmeter gezahlt wurden, kaum noch mit Rendite zu rechnen. Die seinerzeit angepeilten Spitzenmietwerte von 80 bis 100 Mark pro Quadratmeter sind inzwischen auf 60 Mark gefallen. In den letzten beiden Jahren ist Berlin, so Nagels Erfahrung, ein Eldorado der Spekulanten gewesen. Mittlerweile sei der Boom jedoch wegen der Unklarheit des Regierungsumzuges gedämpft. Manchem, der in Erwartung des großen Geldes investiert hat, droht die Puste auszugehen. Der Vorsitzende des Bauindustrieverbandes Berlin/Brandenburg Michael Knipper weiß bereits von einigen Bauträgern zu berichten, denen „das Wasser bis zum Hals“ steht. Nagel schließt Firmenzusammenbrüche nicht aus.Der Crash droht, wenn sich Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) mit seiner Ende Juni gemachten Ankündigung durchsetzt, den Umzug von Parlament und Regierung ins nächste Jahrtausend zu verschieben.

Er sieht sich bei dieser Sparinitiative im Einklang mit seiner Partei, die bereits einen entsprechenden Beschluß fällte und spürt zunehmend Rückendeckung beim Fraktionspartner. Die CDU/CSU- Fraktion brachte ihrem Vorsitzenden Wolfgang Schäuble erst Ende Juni eine deutliche Schlappe bei, als sie dessen Forderung, den Umzugstermin auf 1998 zu datieren, nicht nachkam, sondern sich das Jahr 2002 als „alternative Entscheidungsmöglichkeit“ offenhielt.

Um diesen Trend entgegenzusteuern, müht sich Berlins Bundessenator Peter Radunski (CDU) derzeit in Bonn, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, in dem die Modalitäten des Standortwechsels festgeschrieben werden. Sollte sich die CDU-Fraktion jedoch Ende September auf den späteren Umzugstermin verständigen, dürfte diese Mühe für geraume Zeit vergebens sein. Denn spätestens ab dem Spätherbst widmet sich jeder Bundestagsabgeordnete wieder seinem Wahlkreis, um erneut nominiert zu werden, dann, so das allseitige Kalkül, wird die Front der Berlinbefürworter auf ein Minimum schrumpfen. Laut Meinungsumfragen dominieren im Wahlvolk die Vorbehalte gegen den Residenzwechsel.

Wenige Tage bevor die CDU/ CSU-Fraktion über den Umzugstermin berät, entscheidet das IOC am 23. September, wo der Austragungsort der Olympischen Spiele im Jahr 2000 sein wird. Auch mit diesem Großprojekt hat der Senat die Perspektiven der Stadt und mehr noch sein eigenes Schicksal verbunden. Beide Vorhaben seien, so betonen die Spitzen von SPD und CDU immer wieder, nur von einer Großen Koalition zu bewerkstelligen. Es war das einzige, so bestätigt der Fraktionsvorsitzende des Bündnis 90/Grüne, Wolfgang Wieland, was sie an Regierungs-Philosophie benannt haben, alles andere sei nur Stückwerk gewesen. Vor allem Diepgen, der neben seinen Amtsgeschäften auch dem Aufsichtsrat der Olympia GmbH vorsitzt, wird mit wachsender Unzufriedenheit, auch der eigenen Partei zu rechnen haben, sollte Berlin leer ausgehen. Er hatte bereits in den letzten Wochen mit einem stärker werdenden Widerstand in der CDU zu kämpfen, sei es bei der Neugründung der Akademie der Künste, sei es bei der Abwicklung des Schiller Theaters. Sollten die Olympischen Spiele nicht an Berlin vergeben werden, da ist sich Wieland sicher, werden in der CDU die Messer gegen den Landesvorsitzenden gewetzt. Denn Diepgen habe wie ein Hazardspieler auf Olympia gesetzt, ohne diese Perspektive stehe er vor einem großen Loch. Wegen dieser eingleisigen Ausrichtung des Partners macht sich bei den mitregierenden Sozialdemokraten mittlerweile Nervosität breit. Sie befürchten gleichfalls, sollte Olympia scheitern, in den Abstiegstrudel zu geraten und mahnen bei interen Koalitionsgesprächen bereits eine „Auffanglinie“ an. Wo diese zu ziehen ist, können jedoch auch sie nicht benennen.

Der Regierende Bürgermeister hatte sich gleichermaßen einen persönlichen Imagegewinn als auch eine konjunkturelle Belebung der Berliner Wirtschaft von den Spielen versprochen. Die Stadt werde, so hatte er vorgerechnet, ohne dieses Großereignis auf einen volkswirtschaftlichen Nutzen von 3,5 Milliarden Mark verzichten müssen, Beschäftigungseffekte, die 4.400 Personen für die kommenden 10 Jahre Arbeit garantieren, würden dann entfallen. Die Verschiebung des Regierungsumzuges, so ließ er gleichfalls errechnen, brächte auf die Dauer von 10 Jahren den Verlust von 21.700 Arbeitsplätzen, das Bruttoinlandprodukt würde um 21,7 Milliarden Mark sinken. Steuereinnahmen von 9,8 Milliarden Mark würden in die ferne Zukunft verlagert. Beides, Regierungsfunktion und Olympia, bilden deshalb das wirtschaftliche und politische Fundament der Großen Koalition. Andere Entwicklunsmöglichkeiten der Stadt, etwa als Technologie- und Wissenschaftszentrum sind erst rudimetär vorhanden. Die industriellen Strukturen liegen darnieder, im Westteil der Stadt wandern jene Firmen ab, die mit einer flachen, kapitalintensiven Produktion jahrelang die nun geschmolzene Berlinförderung abgezockt haben, von den ehedem 170.000 industriellen Arbeitsplätzen im Ostteil sind noch 40.000 übriggeblieben. Davon sind nach Ansicht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung nur 20.000 wettbewerbsfähig.

Angesichts dieser Situation setzt auch das Bündnis 90/Grüne auf den Regierungsumzug. Wieland sieht keine Möglichkeit, daß die Stadt sich aus eigenen Kräften aus dem Sumpf zieht. Berlin würde, so seine Prognose, auch mit einer rot-grünen Landesregierung „unter dem Primat der Bonner Politik stehen“. Für die weitere Entwicklung der Stadt sind ihm die nächsten Bundestagswahlen gar entscheidender als die darauf folgenden Abgeordnetenhauswahlen.

Die Hauptstadt müßte sich auf absehbare Zeit mit der Rolle des Zuwendungsempfängers der reichen Bundesländer im Rahmen des Finanzausgleichs begnügen, wenn der Regierungsumzug verschleppt wird. „Eine Armutsmetropole im Mezzogiorno der neuen Bundesländer“, lautet Wielands düstere Vision für diesen Fall. Die Stadt werde mit explodierenden sozialen Problemen zu kämpfen haben. Auch das Bündnis 90/ Grüne tut sich da mit alternativen Konzepten der Stadtpolitik schwer. Es werde, so Wieland, dann Mangel verwaltet. Eine rot- grüne Regierung könne daran nichts ändern. Unter diesen Prämissen überlegt er sich schon, ob er „als Kulturkiller oder Kindergartenauflöser in die Stadtgeschichte eingehen“ will.

Mit einer restriktiven Haushaltspolitik konnte sich bislang auch die Große Koalition nicht anfreunden, sie lebt nach wie vor über ihre Verhältnisse. Nach Wegfall der Berlinhilfe hält sie ihren gewohnten Standard durch Verschuldung. Bereits im kommenden Jahr wird mindestens jede fünfte Mark des Landeshaushaltes vom Kreditmarkt kommen, hingegen werden die Ausgaben nur zu einem Drittel durch Steuereinnahmen gedeckt sein. Der Rahmen des verfassungsrechtlich zulässigen wird damit weit überschritten. Für den Präsidenten des Landesrechnungshof Horst Grysczyk ist angesichts dieser katastrophalen Aussichten bereits „die Handlungsfähigkeit der Politik eingeschränkt“. Doch Berlins Politiker, über Jahrzehnte an Bundeshilfen und –subventionen gewöhnt, tun sich schwer mit dem Entzug.

Vor allem in der CDU geht die Angst um, daß der Standard der gesamten Stadt auf Ostniveau sinken könnte. Ein Aufschrei ging durch ihre Reihen, als mit dem beschlossenen Ende des Schiller Theaters ein Stück „Identität Westberlins“ (Fraktionschef Klaus Landowsky) zu Grabe getragen wurde. Zumindest die eigene Klientel versucht man gegen diese schleichende Verelendung zu schützen. So drückte die CDU im Senat durch, daß trotz Haushaltseinsparungen der mit 32.000 Köpfen größte Polizeiapparat Europas in voller Mannschaftstärke erhalten bleibt. Noch nicht einmal die Heraufsetzung der Beamtenarbeitszeit, wie sie ab 1994 in Berlin gelten soll, müssen die Uniformträger fürchten – davon wurden sie fürsorglich ausgenommen.

Bei der mitregierenden SPD wächst mittlerweile die selbstkritische Erkenntnis, daß, so Nagel, „die Große Koalition nicht gleich am Start Dinge angepackt hat, die erforderlich gewesen wären“. Er sieht die Ursache dafür in den „schwachen Nerven“, die seine Zunftkollegen zeigen, wenn sie Einsparungen vornehmen sollen. Doch schwache Nerven zeigt der gesamte Senat, wenn es um die Olympiabewerbung oder den Regierungsumzug geht. Ihm mangelt es an alternativen Konzepten, deshalb setzt er, trotz leerer Kassen, alles daran, um diese beiden Projekte zu retten. Um am 23. September den Zuschlag des IOC zu erhalten, wurden bereits über 1 Milliarde Mark aus Nagels Bauetat für Sporthallenbauten bereitgestellt. Und um die IOC-Oberen geneigt zu stimmen, spendierte Diepgen kurzerhand 30 Millionen für die Reisekasse der Olympioniken – drei Tage nachdem der Senat die 40 Millionen des Schiller Theaters gestrichen hatte.

Wenn gar die Bundesregierung für den Umzug nach Berlin gewonnen werden soll, ist dem Senat kein Zugeständnis zu groß. Da wird dem Außenminister der zentrale Ort der Stadt angedient, dort wo einstweilen eine Plaste-Attrappe des Stadtschlosses einen visuellen Eindruck des künftigen Dienstsitzes vermittelt, da wird der städtebauliche Wettbewerb zum Spreebogen nachgebessert, damit der Bundeskanzler seinen Amtssitz wunschgemäß als Solitär errichten kann, dessen Traufhöhe der des Parlamentes ebenbürtig ist, und da darf die Bundesbauministerin ungeniert die Berliner Verkehrsströme unter oder durch das Brandenburger Tor lenken, damit den Abgeordneten ihre Ruhezone erhalten bleibt. Doch auch den Parteien und Verbänden werden Vorzugskonditionen geboten, um ihnen den Standortwechsel an die Spree schmackhaft zu machen. Der Senat beschloß, ihnen landeseigene Grundstücke zu einem Preis, der 25 Prozent unter dem amtlichen Verkehrswert liegt, zu überlassen. Bei besonders wichtigen Kunden ist Finanzsenator Elmar Pieroth (CDU) gar bereit, weitere Vergünstigungen einzuräumen. So erhält die SPD-nahe Friedrich-Ebert- Stiftung im vornehmen Tiergartenviertel ein 3.200 Quadratmeter großes Grundstück für 2.250 Mark pro Quadratmeter – obgleich dort der Verkehrswert bereits Mitte 1992 das Doppelte betrug. Die Schwestereinrichtung von der CDU, die Konrad-Adenauer-Stiftung mußte im Herbst 1991 für ein Nachbargrundstück gar nur 1.900 Mark pro Quadratmeter zahlen. Mit diesen Präsenten verfolgt der Senat seine Strategie des, wie Meisner es formuliert, unumkehrbare Fakten schaffen. Eine entsprechende Manifestation wäre, so seine Prognose, erst dann erreicht, „wenn die Ministerien und der Bundeskanzler umziehen“. In dieser Einschätzung sind sich Senat und Opposition ausnahmsweise einig. Auch Wieland hält es für möglich, daß der nächste Bundestag einen anderen Hauptstadtbeschluß fällt, „solange nicht Umzugsfakten geschaffen sind“. Deshalb richten sich nun die Hoffnungen des Senats auf Kohl. Der hat sich bislang bei den internen Auseinandersetzungen in seiner Fraktion zurückgehalten. Die Fürsorglichkeit, mit der er sich der Gestaltung seiner künftigen Residenz widmet, mal die Vorgaben für das nationale Mahnmal in der neuen Wache formuliert, mal mit Architekt Schultes unter vier Augen über die Anordnung des Regierungsviertels parliert, ist den Berliner Politikern jedoch bereits untrügliches Zeichen, daß der Kanzler schon bald von der Spree aus teilzeitregieren will. Um sein miserables Image im Osten aufzupolieren, so wird in Diepgens Rotem Rathaus spekuliert, werde Kohl in absehbarer Zeit einen Teil seiner Amtsgeschäfte nach Berlin verlegen. Als geeignetes Gebäuden für ihn wurde bereits das alte Stadthaus ausgemacht. Dort, im ehemaligen Haus des Ministerrats, hat schon Lothar de Maizière die letzten Tage seiner Amtszeit verbracht.