■ Zur Aufhebung der Todestrafe gegen John Demjanjuk
: Kein Schauprozeß wie bei Eichmann

Als der inzwischen staatenlose John Demjanjuk 1988 aus Amerika ausgewiesen auf dem Flughafen von Tel Aviv landete, bat er die israelischen Polizisten, niederknien und den Boden des Heiligen Landes küssen zu dürfen (es wurde ihm verweigert). Im weiteren Verlauf des jahrelangen Verfahrens gegen den Mann, den sechs Überlebende aus Treblinka von Fotos und Gegenüberstellungen als „Iwan den Schrecklichen“ identifiziert hatten, bestand seine Verteidigungsstrategie stets darin, sich als eben jenen gläubigen, einfachen und dummen Automechaniker aus Cleveland/Ohio darzustellen, als der er sich schon bei seiner Ankunft hatte zeigen wollen. Fast scheint es, als hätte er sein Selbstporträt entlang von Hannah Arendts Überlegungen zur Banalität des Bösen modelliert, die sie damals, 1963, aus ihren Beobachtungen des Prozesses gegen Adolf Eichmann in Jerusalem entwickelt hatte.

Das Todesurteil gegen Demjanjuk, gefällt 1988, war das zweite seiner Art auf israelischem Boden. Das ist aber schon fast die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden Prozessen. An ihren Unterschieden läßt sich ablesen, was während der jüngsten israelischen Angriffe auf Ziele im Libanon in Vergessenheit zu geraten droht: Daß Israel dem Wunsch des Vorkriegs-Zionismus, der jüdische Staat könne eine normale Nation unter den Nationen werden, ein gewaltiges Stück näher gekommen ist.

Eichmann war im Mai 1960 von einem Geheimkommando der israelischen Sicherheitskräfte in Argentinien gekidnappt und nach Haifa gebracht worden; Demjanjuk wurde nach einem offiziellen Verfahren von amerikanischen Behörden ausgeliefert, weil er falsche Angaben über seine Tätigkeit während des Krieges gemacht hatte. Damals, 1960, hatte Ex-Ministerpräsident Ben Gurion schon Wochen vor der Eröffnung des Prozesses verkündet, man wolle, „daß die Nationen der Welt all dies erfahren, und daß sie sich schämen“.

Die Juden in der Diaspora sollten sich daran erinnern, daß das Judentum mitsamt seinen viertausend Jahre alten ethischen Schöpfungen wie eine Herde wehrloser Schafe zur Schlachtbank geführt worden sei – kurz: Der Staat Israel statuierte an Adolf Eichmann ein Exempel zum Beweis der eigenen Legitimität, ja Notwendigkeit für das Überleben der Juden in aller Welt. Von den vielen Staaten, in denen Prozesse gegen Nazi-Kriegsverbrecher stattfanden, gehört der Holocaust für keinen so sehr zur raison d'être wie für Israel. Sich von dieser Erfahrung nicht überwältigen zu lassen, jedenfalls nicht in einem Gerichtssaal, muß eine fast übermenschliche Anstrengung sein.

Damals jedenfalls verlor der Staatsanwalt Hausner (nicht aber das Gericht) die so wichtige Unterscheidung zwischen der Sühne der Leiden des jüdischen Volkes und der Beurteilung konkreter Mitverantwortung eines Angeklagten aus dem Auge. „Die Toten haben uns vereidigt, Rache zu nehmen“, kommentierte Elija Rosenberg, ein Augenzeuge, anläßlich des Freispruchs von Demjanjuk. „Ich bin fassungslos.“ Seine und die Aussagen von sechs Überlebenden aus Treblinka, die unter „Iwan dem Schrecklichen“ in den Gaskammern gearbeitet und erlebt hatten, wie er mit Schwertern, Bohrern und Stiefeltritten Wodka-selige Gemetzel unter den Gefangenen angerichtet hatte, waren immer wieder von der Anklage gegen Demjanjuk ins Feld geführt worden. Daß diese Aussagen ausgerechnet von ehemaligen ukrainischen SS-Männern aus Treblinka widerlegt wurden, die gegenüber sowjetischen Gerichten erklärt hatten, „Iwan der Schreckliche“ habe in Wahrheit Ivan Marchenko geheißen, markiert eine Zäsur in der isralischen Rechtsgeschichte.

Alles, alles hatte gegen Demjanjuk gesprochen: der auf seinen Namen lautende Ausweis aus Trawniki, dem Ausbildungslager, in dem die SS ukrainische Kriegsgefangene zu KZ-Aufsehern trainierte; die Tatsache, daß er in jedem Gespräch, das er seit 1945 mit Flüchtlingshelfern und amerikanischen Einwanderungsbehörden geführt hatte, eine neue Story verfaßt hatte; daß er mit rauhem Stein versucht hatte, die SS-Tätowierung von seinem Arm zu reiben und schließlich die penetrante Koketterie, mit der er sich ständig als freundlicher, amerikanischer dim wit präsentiert hatte, als liebender Großvater und gemütlicher Nachbar.

Eichmann hatte damals während des gesamten Prozesses in einem Glaskasten gesessen. Wohl nicht nur, um ihn vor Übergriffen zu schützen, sondern auch, um ihm den Nimbus des Monsters zu geben. Der Prozeß fand in Hebräisch statt, die Übersetzungen, auch für die Presse, müssen ziemlich erbärmlich gewesen sein. Diesmal gab es perfekte Simultanübersetzungen in fünf verschiedenen Sprachen, eine permanente Fernsehübertragung und Demjanjuks Sohn konnte ungeschützt und unbehelligt durch die Straßen Jerusalems spazieren. Angegriffen wurde nur Demjanjuks orthodoxer jüdischer Anwalt Scheftel; ein Überlebender schüttete ihm Säure ins Gesicht, die ihn kurzzeitig erblinden ließ.

John Demjanjuk war bis gestern ein staatenloser, zum Tode verurteilter, in aller Welt gehaßter Mann. Nichts wäre leichter gewesen, als ihm, wenn schon nicht Treblinka, so doch eine SS-Tätigkeit in Sobibor anzuhängen; denn daß er gar nichts mit der SS zu tun hatte, glaubt offenbar nicht einmal sein Anwalt. Aber weil er wegen des Verdachts der Identität mit „Iwan dem Schrecklichen“ ausgeliefert und angeklagt worden war, hat das Gericht auf die Anstrengung eines neuen Verfahrens verzichtet. Daß das „in dubio pro reo“ nicht einmal in diesem Fall außer Kraft gesetzt wurde, läßt real werden, was 1961 noch in weiter Ferne lag: Israel muß seine Legitimität nicht mehr ausschließlich an den Holocaust knüpfen, sondern stellt sich, mit rechtsstaatlicher Nüchternheit, in die Reihe der demokratischen, im Völkerrecht fest verwurzelten Staaten. Mariam Niroumand