■ Plädoyer wider das falsche Argument vom Jahrhunderte alten Haß zwischen Serben, Kroaten und Muslimen
: Der Haß ist nicht von hier

Wenn die Gegner einer Intervention des Westens versuchen, ihre Gleichgültigkeit, Ohnmacht oder mangelnde Bereitschaft zur Verhinderung der Greueltaten öffentlich zu rechtfertigen, greifen sie auf ihr letztes „Argument“ zurück: „Wir können angesichts des jahrhundertealten Hasses und der Streitsucht auf dem Balkan sowieso nichts ausrichten!“

Aber haben wir in Bosnien- Herzegowina und im ehemaligen Jugoslawien wirklich in einer Tradition jahrhundertealten Hasses gelebt? Nein, zumindest die Mehrheit von uns nicht. Wir haben die Hälfte des Jahrhunderts – knapp fünfzig Jahre – in Frieden verbracht, bis er von „jemandem“ brutal abgebrochen wurde. Dieser „jahrhundertealte Haß“ reichte von der mittelalterlichen serbisch- türkischen Schlacht auf dem Amselfeld bis zum Zweiten Weltkrieg, als die hiesigen Völker – KroatInnen, SerbInnen und Moslems – ihre Quislinge und Nazis bei den Ustaschi und Tschetniks hatten. Sich auf dieses scheinbare Kontinuum zu berufen, erklärt uns aber rein gar nichts über das heutige Blutvergießens auf dem Balkan.

Diese Sichtweise wurde der Weltöffentlichkeit vom Belgrader nazistisch-faschistischen Regime Slobodan Miloševićs eingeimpft, des wohl letzten kommunistischen Diktators in Europa, um seine Urheberschaft am Terror zu vernebeln. Er richtet sich gegen all jene, die seinem einzigen Ziel – der Schaffung eines „großserbischen Reiches“ – im Wege stehen.

„Aber hat nicht all die Zeit über der Haß unter Ihnen gelebt, während Sie vom kosmopolitischen Sarajevo und dem multikulturellen, religiös und ethnisch vielfältigen Bosnien-Herzegowina redeten?“ Die Frage wird uns regelmäßig von ausländischen Besuchern in Sarajevo gestellt: von Journalisten, Autoren, Diplomaten. Nein, der Haß ist nicht von hier. Das Unheil, das auf uns niederstürzte, kam von außen. Dazu einige Aspekte:

Erstens wurde das ganze Projekt eines „Großserbien“ importiert. Die Grenzen des Milošević- Imperiums wurden nicht hier in Bosnien-Herzegowina, sondern in den Stuben der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste gezogen. Unter Indienstnahme der Medien wurde in Belgrad im Laufe der letzten Jahre systematisch unter dem Motto „alle Serben in einem Staat“ diese expansionistische Idee geschürt. Sie wurde angeheizt vom paranoiden Syndrom „alle gegen uns“ bzw. „wir gegen alle“, das die psychische Grundlage für die massenhaft vorbereitete Aggression liefern sollte.

Im Jahre 1988 trat Milošević in Gazimestan anläßlich der Feier der von den Serben verlorenen Schlacht auf dem Amselfeld auf. Seine Drohung, auch der bewaffnete Kampf sei nicht auszuschließen, war ein Signal kommenden Unheils – der Expansion Serbiens auf Kosten der Nachbarstaaten. Inspiriert durch jene neugezeichnete Landkarte aus Belgrad begann zuerst der Aufstand der Serben in Kroatien und im Frühjahr 1992 folgten die „ethnischen Säuberungen“. Der Genozid wurde in großem Maßstab zuerst entlang des Flusses Drina durchgeführt, dann in anderen Regionen Bosnien-Herzegowinas, deren einziger Fehler es war, sich innerhalb der Grenzen der verfluchten „Republika Srpska“ oder des zukünftigen „Großserbiens“ zu befinden.

Kräfte, die der Aggression gegen Bosnien-Herzegowina dienten, wurden importiert. In erster Linie war dies die „Jugoslawische Volksarmee“, deren Generalstab auch in Belgrad sitzt und die ihre ganzen schweren Waffen – mit dem Geld aller Bürger des ehemaligen Jugoslawiens bezahlt – gegen die Zivilbevölkerung von Sarajevo, Mostar, Goražde und weiterer zehn Städte richtete; es waren aber auch die paramilitärischen Einheiten aus Serbien wie die Milizen Arkans, Šešeljs, die „Weißen Adler“ und andere, die mitunter die schlimmsten Greueltaten in Bosnien-Herzegowina begangen haben; nicht zuletzt waren es aber auch die Söldner aus Rußland, Rumänien und einigen anderen Ländern, die ihren blutigen Tageslohn als Scharfschützen oder gemeine Schlächter in den Einheiten der „Republika Srpska“ verdienen.

Importiert wurden, drittens, auch alle wichtigen Urheber und Exekutoren der Verbrechen in Bosnien-Herzegowina, die nun in der Führung der selbsternannten „Republika Srpska“ versammelt sind. Keiner von denen, die heute von Pale aus die Massaker, Vergewaltigungen und Vertreibungen der Bevölkerung dirigieren, gehörte jemals zur hiesigen Kultur des Zusammenlebens und der ethnischen und religiösen Toleranz.

Angefangen mit Radovan Karadžić, dem Führer dieses kriminellen Vereins, der aus den Hinterwäldern des Durmitors (höchster Gebirgsstock in Montenegro, 2522 Meter hoch, d. Übersetzer) zum Studieren nach Sarajevo kam, seine einsaitige Gusla mitbrachte und Epen vom Amselfeld sang. In längst vergangenen Jahrhunderten schwelgend, hat er den kosmopolitischen Geist Sarajevos tatsächlich nie gespürt. Über Karadžićs „Außenminister“, Aleksa Buha, der in aller Öffentlichkeit, vor laufenden Fernsehkameras äußerte, daß „SerbInnen lieber kollektiven Selbstmord begehen würden, als mit anderen ethnischen Gruppen zusammenzuleben“.

Bis hin zum Kommandanten der verbrecherischen „Armee der Republika Srpska“, General Ratko Mladić, der in einer Nacht, in der ganz Sarajevo brannte, seiner Artillerie per Tonbandaufnahme, die mehrmals im Radio gesendet wurde, befahl: „Schlagt Velesice, weil es dort wenige serbische Einwohner gibt“.

Nein, solche Menschen und der Haß, den sie auf Bosnien-Herzegowina abwarfen, gab es unter uns nicht. Vielleicht lebten sie aber neben uns – im ständigen Rausch wachsender mythischer Rachegelüste für die Niederlage, die ihren mittelalterlichen Vorfahren von türkischen Soldaten zugefügt worden war. Dazu haben aber die heutigen Bosnier und Herzegowiner jeden Alters keinerlei emotionale oder nationale Verbindung. Vollgestopft mit Propaganda für den Kampf um die „heilige Sache der Nation“, gingen die Kämpfer „Großserbiens“ ihren zerstörerischen und verbrecherischen Weg.

Jeder internationale Versuch einer Erklärung, die auf der Formel jenes „jahrhundertealten Hasses“ basiert, ist die Vernebelung der wahren Verantwortlichen des Genozids in Bosnien-Herzegowina. Es ist der Versuch, das eigene schlechte Gewissen zu beruhigen und angesichts dieser Katastrophe die eigene Gleichgültigkeit zu rechtfertigen. Dies kommt beinahe der Mitschuld an den Verbrechen gleich. Kemal Kurspahić

Chefredakteur der in Sarajevo erscheinenden Tageszeitung „Oslobodjenje“ (Übersetzung aus dem Serbokroatischen: Will Firth)