Nach Meinung des israelischen Obersten Gerichtshofs ist John Demjanjuk nicht identisch mit „Iwan dem Schrecklichen“ aus dem Lager Treblinka. Überlebende des Nazi-Todeslagers reagierten schockiert auf den Freispruch. Aus Tel Aviv Amos Wollin

Unschuldig, weil Zweifel überwiegen

„Im Zweifel für den Angeklagten“ lautete das Urteil des israelischen Obersten Gerichtshofs, als es gestern in einstimmiger Entscheidung das Todesurteil gegen den gebürtigen Ukrainer Iwan John Demjanjuk aufhob. Vor fünf Jahren hatte ein Jerusalemer Bezirksgericht den heute 73jährigen aus Cleveland im US-Bundesstaat Ohio, der von Holocaust-Überlebenden als „Iwan der Schreckliche“ der Gaskammern von Treblinka erkannt worden war, zur Höchststrafe verurteilt. Gleichzeitig befanden die obersten Richter, daß Demjanjuk wegen anderer Naziverbrechen, deretwegen er ursprünglich weder ausgeliefert noch angeklagt worden war, im Rahmen dieses Verfahrens nicht abzuurteilen ist.

Die höchstrichterliche Entscheidung bedeutet, daß Demjanjuk nach sieben Jahren Haft nun aus der israelischen Haft entlassen werden könnte. Da er jedoch staatenlos ist und baldmöglichst in ein Land ausgewiesen werden soll, das sich bereit erklärt, ihn aufzunehmen, wurde der ehemalige SS- Wachmann wieder in seine Zelle im Gefängnis von Ramle zurückgebracht, wo ihm sein Sohn John zu seinem Erfolg gratulierte. Nach dem gestrigen Freispruch soll Demjanjuk vorerst in „Schutzhaft“ bleiben, bis Angehörige und Rechtsanwälte entschieden haben, in welches Land er überführt werden kann. In die USA kann er sicher vorerst nicht zurückkehren, weil er die US-Staatsbürgerschaft verloren hat und erst Verfahren eingeleitet werden müßten, die ihm die Heimreise zu seiner Familie in Cleveland ermöglichen. Presseberichten zufolge wird Demjanjuk voraussichtlich in die Ukraine ausreisen.

Die Verlesung der Urteilsbegründung nahm über zwei Stunden in Anspruch. Unter den vielen prominenten Anwesenden im Saal 3 des neuen Prachtgebäudes, das erst vor kurzer Zeit für das Oberste Gericht fertiggestellt wurde, befanden sich Mitglieder des israelischen Parlaments (Knesset), hohe Staatsbeamte, Rechtsgelehrte, Holocaustforscher und Journalisten aus dem In- und Ausland – und Überlebende der Todeslager der Nazis. Vor allem letztere waren wie gelähmt von dem Freispruch, einige brachen in Tränen aus, andere versuchten ihre Wut an Joram Scheftel, dem israelischen Verteidiger Demjanjuks, auszulassen; der konnte aufgrund der heftigen Proteste vor dem Gerichtsgebäude nur unter Polizeischutz in Sicherheit gebracht werden.

„Die Toten haben uns ver- eidigt, Rache zu nehmen“

Joram Scheftel sagte, er sei stets überzeugt gewesen von der Notwendigkeit eines Freispruchs; schließlich sei aufgrund des neuen Beweismaterials klar gewesen, daß Demjanjuk nicht der „Iwan“ aus Treblinka sein konnte. Wäre die entscheidende KGB-Dokumentation – nach der der ukrainische „Iwan der Schreckliche“ vom Lager Treblinka ursprünglich Iwan Marchenko hieß – nicht rechtzeitig aufgefunden worden, John Demjanjuk wäre heute ein toter Mann.

Der Holocaust-Überlebende und ehemalige Knesset-Vorsitzender Dov Schilanski, der den ganzen Prozeß verfolgt hat, erklärte: „Bei mir gibt es überhaupt keinen Zweifel, daß Demjanjuk ,Iwan der Schreckliche‘ aus Treblinka ist. Das Oberste Gericht wollte übermäßig genau verfahren.“ Efraim Zuroff, der Vertreter des Wiesenthal-Instituts in Israel, sagte nach dem Urteil: „Es ist eindeutig erwiesen, daß Demjanjuk ein SS- Wachmann war und schon deshalb für seine Naziverbechen bestraft werden müßte. Leider wird sich die Welt in Zukunft nicht daran erinnern, daß Demjanjuk ein Naziverbrecher war, sondern daß er freigesprochen wurde. Es ist auch bedauerlich, daß Israel nur an symbolischen Prozessen gegen Naziverbrecher interessiert ist.“

Avner Schalev, Direktor der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem, Yad Vaschem, brachte sein volles Vertrauen in die israelische Rechtsprechung zum Ausdruck. Das Urteil mache der israelischen Justiz alle Ehre, so Schalev. Der Demjanjuk-Prozeß sei eine wichtige Lehre für die Bevölkerung Israels gewesen. Naziverbrecher sollten auch weiter verfolgt und vor Gericht gebracht werden.

Auch der ehemalige oberste Richter Haim Cohen sprach von einem großen Tag der israelischen Rechtssprechung. Eine schwierige Aufgabe sei hier richtig gelöst worden. „Auch wenn Demjanjuk ein Naziverbrecher war“, so Cohen, sollte man ihn jetzt, „nach all den Jahren der Verfahren gegen ihn, in Ruhe lassen.“ Bei dem Prozeß selbst hätten ihn nur die Versuche gestört, das Gerichtsverfahren in eine Schau zu verwandeln.

Ehemalige Zwangsarbeiter aus dem Lager Treblinka, die als Zeugen der Anklage aufgetreten waren und in Demjanjuk mit Bestimmtheit „Iwan den Schrecklichen“ sehen, reagierten wütend auf den Freispruch. Josef Czerny sagte aufgeregt: „Ich bin schockiert. Das muß ein Irrtum des Obersten Gerichts sein. Das Urteil hilft ja nur den Naziverbrechern, die noch ungestraft in Freiheit sind, und denen, die behaupten, daß es gar keinen Holocaust gegeben hat.“

Ein anderer Augenzeuge, Elija Rosenberg, fügte vor Aufregung fast weinend hinzu: „Ich bin überzeugt, daß auch die Richter genau wissen, daß John Iwan Demjanuk Iwan der Schreckliche ist. Mich ärgert besonders, daß hier gerade Zeugenaussagen, die aus den Archiven des KGB stammen, für den Freispruch entscheidend waren. Die Toten haben uns vereidigt, Rache zu nehmen. Ich bin fassungslos, ich kann es nicht begreifen.“