Ein Fehler, „alles auf die Karte Treblinka zu setzen“

■ Nicht die Kriegsverbrechen und die Konsequenzen aus dem Holocaust standen im Zentrum des Prozesses, sondern die Argumente zur Identitätsfindung Demjanjuks

Vierzehn Monate dauerte das dramatische Verfahren gegen John Demjanjuk, und jeder Prozeßtag wurde aus dem Saal der „Gebäude der Nation“ in Jerusalem über Hörfunk und Fernsehen übertragen. Im April 1988 wurde der Angeklagte von drei Richtern eines Jerusalemer Bezirksgericht zum Tode verurteilt. Doch Zweifel an der Identität Demjanjuks konnten nie gänzlich ausgeräumt werden.

Demjanjuks Verteidiger Joram Scheftel, der sowohl in-, als auch außerhalb des Gerichtssaals scharfen Angriffen ausgesetzt war, hatte immer wieder aufzuzeigen versucht, daß John Demjanjuk nicht mit „Iwan dem Schrecklichen“, dem NS-Schergen aus Treblinka, identisch sei. Und daß weder die Zeugenaussagen von Überlebenden des Vernichtungslagers, noch die Identitätskarte, die auf Demjanjuks Namen im Trawniki-Ausbildungslager für SS-Wachleute ausgestellt war, als Beweis dafür gelten könnten, daß der Angeklagte und später Verurteilte tatsächlich die Person war, der die John Demjanjuk zur Last gelegten Kriegsverbrechen begangen hatte.

In seiner Berufung gegen das Todesurteil vor dem Obersten Gericht, das nach israelischem Recht bei Todesstrafen automatisch eingeleitet wird, stützte sich Scheftel dann auf einstweilen in der ehemaligen Sowjetunion aufgefundene Zeugenaussagen von 37 ehemaligen ukrainischen SS-Wachleuten, die in Treblinka gedient hatten und denen nach dem Zweiten Weltkrieg vor Sowjetgerichten der Prozeß gemacht wurde. Gemäß diesen erst nach der Verurteilung Demjanjuks entdeckten Materials hieß der ukrainische „Iwan der Schreckliche“ von Treblinka ursprünglich Iwan Marchenko. Demjanjuks Name wurde in keinem der sowjetischen Gerichtsverfahren gegen ehemalige SS-Wachleute erwähnt.

Kurz vor der Urteilsverkündung sagte Joram Scheftel, es bliebe dem Obersten Gericht gar nichts anderes übrig, als festzustellen, daß Demjanjuk nicht „Iwan der Schreckliche“ gewesen sei, da bewiesen wurde, daß Marchenko dieser „Iwan“ von Treblinka war. Rechtsanwalt Scheftel meinte darüber hinaus, daß man Demjanjuk in Israel keinen zweiten Prozeß – wegen angeblicher Tätigkeit als SS-Wachmann im Todeslager Sobibor – würde machen können, da die Auslieferung Demjanjuks nach Israel lediglich aufgrund der Anschuldigung erfolgt war, daß es sich bei ihm um „Iwan den Schrecklichen“ und seine Verbrechen in Treblinka handelte.

Dagegen argumentierte der israelische Staatsanwalt Michael Schaked während des Berufungsverfahrens, daß es an den Gasöfen von Treblinka vermutlich zwei SS- Wachleute mit dem Namen Iwan gegeben hat. Übrigens hatte Demjanjuk den Mädchennamen seiner Mutter als „Marchenko“ angeführt, als er 1948 um ein US-amerikanisches Visum nachsuchte. Der Staatsanwalt wies auch auf neueres Material aus der Bundesrepublik Deutschland hin, aus dem hervorgeht, daß Demjanjuk als SS-Wachmann in den Lagern von Sobibor und Flossenbürg gedient hat. Nach Ansicht des Anklägers genügte schon diese Tatsache, um Demjanjuk als Kriegsverbrecher zu verurteilen. Sollte das Oberste Gericht Demjanjuk gemäß dem Grundsatz „in dubio pro reo“ freisprechen, so Schaked vor der gestrigen Urteilsverkündung, würde die Staatsanwaltschaft in Erwägung ziehen, ob sie ein neues Verfahren gegen Demjanjuk wegen in Sobibor begangener Kriegsverbrechen einleitet. Er selbst leugnet im übrigen, je in Sobibor gewesen zu sein.

Viele einflußreiche Ukrainer, sowohl diejenigen in der ehemaligen Sowjetunion als auch einige der 700.000 aus der Ukraine stammenden US-Amerikaner, hatten sich in der letzten Zeit intensiv für den Freispruch Demjanjuks eingesetzt. Der Knesset-Vorsitzende Schewach Weiss (Arbeitspartei), der vor kurzem die Ukraine besuchte, kam mit dem Eindruck zurück, daß die weitere Inhaftierung Demjanjuks in Israel zu einem Aufleben des dort bereits weitverbreiteten Antisemitismus führen könnte.

Der israelische Publizist Tom Segev hatte vor wenigen Tagen das Verfahren gegen Demjanjuk als „fairen Schauprozeß“ bezeichnet. „Dem Angeklagten war die Möglichkeit gegeben, sich zu verteidigen. Alles lief dem Gesetz entsprechend ab, aber der Prozeß fand im Kino statt, TV-Kameras waren zugelassen. Das beeinflußte alle, auch die Richter. Zwei von ihnen haben inzwischen einen Preis bekommen: Zvi Tal und Dalia Dorner sitzen aufgrund einer vorläufigen Ernennung im Obersten Gericht. Die Frage ist nun: Wie wird das israelische Rechtssysten dastehen, sollte Demjanjuks Berufung angenommen werden. Das Rechtssystem wird sehr gut dabei wegkommen, denn es wird so zeigen, daß es trotz seiner Schwächen die Fähigkeit nicht verloren hat, Fehler zu revidieren.“

Leider sei mit dem Prozeß gegen Demjanjuk die Gelegenheit verpaßt worden zu demonstrieren, daß jemand auch nach 40 Jahren noch für rassistische Untaten bestraft werden kann, die er aufgrund rechtswidrigiger Befehle verübt hat. Diese moralisch-erzieherische Aufgabe habe der Prozeß bestimmt nicht erfüllt, meinte Segev am 23. Juli in der israelischen Tageszeitung Haaretz weiter. „Aus dem großen Drama wurde eine beschämende Farce: Nicht die Konsequenzen, die aus dem Holocaust zu ziehen sind, standen da im Mittelpunkt der Verhandlung, sondern die Argumente zur Identitätsfindung eines Ukrainers namens Demjanjuk. Das wäre vielleicht nicht passiert, wenn man sich mit der Affäre Sobibor begnügt hätte (das heißt, was Demjanjuk als SS- Wachmann im diesem Vernichtungslager verbrochen hat – A.W.). Rückblickend war es ein Fehler, daß das Justizministerium beschlossen hat, alles auf die Karte Treblinka zu setzen.“