■ Gemeinsamkeiten mit dem Westen bleiben auf der Strecke
: Der heilige Martin ist bloß noch Legende

Was muß die Kirche angesichts der allseits ausgebrochenen oder drohenden neuen Kriege unternehmen, daß ihre Entscheidung auch seitens nichtkirchlicher Bürger akzeptabel wird? Meiner Ansicht nach muß klar sein, daß die Kirche auf keinen Fall eine vorurteilsbeladene Position zugunsten des Westens einnehmen darf. Wenn sie das in früheren Zeiten getan hat – und das wurde ihr auch zu Recht immer wieder scharf vorgehalten –, so hatte sie in gewisser Weise noch ein Alibi darin, daß oft das Interesse des Westens mit dem des Christentums oder der Christenheit identifiziert wurde. Doch heute gibt es offensichtlich keinerlei Motivation dieser Art mehr – der Westen ist längst entchristlicht, warum soll die Kirche da sein politisches Spiel mitmachen? Wegen gemeinsamer Vorteile? Gemeinsam angesichts der Tatsache, daß die Mehrheit der Völker in grauenhaft armseligen Verhältnissen lebt und der Großteil des Westens im Wohlstand?

Der deutsche Historiker Nolte schlägt eine Analyse des Beispiels des heiligen Martin vor, der seinen Mantel mit einem armen Frierenden teilte. Nehmen wir an, so Nolte, Amerika schenke Afrika die Hälfte seiner Güter, oder auch nur ein Viertel. Da würde nach allen Regeln der Vernunft die Weltwirtschaft zusammenbrechen, und das wäre folgerichtig auch eine Katastrophe für Afrika. Das stimmt. Aber das bedeutet nicht, daß einige Zuwendungen seitens des Westens das Schicksal der Dritten Welt enorm erleichtern könnten und damit auch die Migrationsflüsse stoppen könnten, die nun umgekehrt den Westen in Krisen stürzen.

Ich hoffe, die Kirche ist sich bewußt, daß man das Beispiel des heiligen Martin nicht weltweit fordern kann, daß also auch das Evangelium die Probleme unserer Welt nicht löst. Doch es scheint mir nicht nur verständlich, sondern für sie sogar obligatorisch, wenn sie die heute üblichen „politischen Lösungen“ für unannehmbar erklärt. Worin sollten derlei Lösungen denn heute noch bestehen – im Grunde genommen doch nur darin, die derzeitige Weltordnung mit Hilfe von Gewaltandrohung und deren tatsächlicher, allerdings kontrollierter Gewalt aufrechtzuerhalten.

Meiner Meinung nach ist derlei nicht mal vom „laizistischen“, also nicht christlich geprägten Standpunkt her annehmbar. Damit nämlich würde sich eine Logik verfestigen, nach der sich weltweit nur derjenige Macht und Reichtum sichern darf, der beides schon besitzt, und zwar mit militärischen Interventionen nicht nur im Falle eines Angriffs gegen sich selbst, sondern auch schon bei Bedrohung oder mutmaßlicher Bedrohung ... In diesem Sinne wäre es dann die letzte Konsequenz, schlichtweg alle armen Völker der Welt zu vernichten, weil sie ja irgendwann eine Gefahr für den Westen darstellen könnten. Sergio Quinzio

Der Autor ist Religionswissenschaftler und schreibt unter anderem für „L'Espresso“ und den „Corriere della sera“.