Erneut Bedenkliches

Der Süddeutschen Zeitung von gestern entnehmen wir eine Meldung, die geistige Verwirrung weit über die üblichen gut informierten Kreise hinaus zu stiften geeignet ist: Helmut Kohl, Kanzler auch der neuen Bundesrepublik, Vorsitzender der CDU und promovierter Historiker, sprach in Bonn, provisorischer Hauptstadt der alten Bundesrepublik, im Rahmen einer Diskussion zum neuen Grundsatzprogramm der CDU, einer christlichen Volkspartei „an der Schwelle des 21. Jahrhunderts“, über die „geistigen Wurzeln“ seiner Partei in der „Tradition der europäischen Aufklärung“. Er pries laut SZ „die ,christlichen Märtyrer‘, die der ,Nazi-Barbarei‘ zum Opfer gefallen seien, geradeso wie die Widerständler gegen die SED- Diktatur, die sich der christlich- demokratischen Idee zugehörig gefühlt hätten“. Dies sei die „ganzheitliche Betrachtensweise“, die er für das neue Grundsatzprogramm der CDU empfiehlt.

Nun war die CDU insofern immer ganzheitliche Volkspartei, als sie sich sowohl 1945ff als auch 1989ff dem ethischen Gesamtdurchschnittsdeutschen gegenüber als mildtätig, verständnisvoll und gnadenreich erwies: zu beiden historischen Gelegenheiten öffneten die christlichen Demokraten ihren Mantel so weit wie je ein Exhibitionist im Bonner Stadtpark, so daß die Mitläufer der Geschichte komfortabel Platz darunter fanden und auf allen Blockflöten das Lied des Herrn im Dunkeln mitpfeifen konnten. Die CDU wuchs und gedieh, nahm an numerischer wie pekuniärer Bedeutung unaufhaltsam zu und präsentiert sich heute selbstbewußt als Agentur des negativen Mittelwerts von Krause bis Kohl. Überraschend an all dem ist nur des Kanzlers „ganzheitlicher“ Bezug auf die europäische Aufklärung, die, wie wir uns schwach erinnern, nicht die Bewegung von unten nach oben (die Masse drückt hoch bis ins Kanzleramt) propagierte, sondern das Menschenrecht der Eliten zum allgemeinen erklärte, im Kanzlerdeutsch: entscheidend war, was unten rauskam. Wie sagt Fontane: „Lirum, larum, Löffelstiel./ Alles in allem: es war nicht viel.“ ES