■ Die Parteienreform in Japan ist eine neo-konservative
: Kein Grund zur Euphorie

Endlich sei das seit langem von einer Partei (LDP) monopolisierte System zusammengebrochen, nun beginne die „Reform“, so der Tenor japanischer und auch westlicher Medien über das Ergebnis der jetzigen Wahl zum japanischen Unterhaus und die wahrscheinliche neue Koalitionsregierung. Aber wer hat gewonnen? Welche „Reform“ kann man erwarten?

Das Ausgangsproblem vor einem Jahr bestand darin, wie man die Reihe von Korruptionsskandalen stoppen könne. Bei der Diskussion um einen darauf bezogenen neuen Gesetzentwurf kam es zu einer geschickten Verdrehung des eigentlichen Problems. Eine Minderheit der seit Kriegsende monolithisch regierenden „Liberaldemokratischen Partei“ (LDP) begann zu behaupten, die wesentliche Ursache der Korruption läge im bestehenden Wahlsystem. Man müsse daher die Wahlkreise so verkleinern, daß nur ein Abgeordneter pro Wahlkreis gewählt werden könne. Die Mehrheit der LDP war dagegen.

Infolge dieses Streits war die Minderheit gezwungen, aus der größten konservativen Partei auszutreten und gründete unter dem Stichwort „Reform“ die Erneuerungspartei (JRP). Es kam zur Absplitterung einer weiteren Gruppe (Sakigake-Vorläufer) und zur Auflösung des Parlaments. Parallel zu dieser Rebellion hatte vor einem Jahr eine andere Gruppe, frühere Sympathisanten der LDP, eine neo-konservative Partei (JNP) gegründet.

Die bisherigen Oppositionsparteien, vor allem die Sozialdemokraten (SPJ), betrachteten diesen chaotischen Zustand der Konservativen als einmalige Chance, durch eine Koalition mit den unzufriedenen konservativen neuen Parteien an die Regierung gelangen zu können. Für sie hieß „Reform“ also, endlich eine Anti- LDP-Regierung bilden zu können. Aber schon dieses Ansinnen barg einen untrüglichen Widerspruch in sich. Auch die meisten Abgeordneten der neuen Parteien waren mehr oder weniger in Korruptionsaffären verwickelt, was gerade die Opposition weiterhin hätte kritisieren müssen. Doch sobald die Sprache auf eine mögliche Koalition kam, verzichtete sie darauf. Einen noch größeren und seltsamen Widerspruch für die Opposition stellt die Tatsache dar, daß, sollte sie die neue, vom Koalitionspartner JRP vorgeschlagene Konzeption des Wahlsystems akzeptieren, sie der Statistik nach fast alle ihre eigenen Sitze im Unterhaus verlieren würde! Also überlegte man sich eine neue Regelung, da ja die „Koalition“ einziges Ziel war, und kam zum Vorschlag, die Hälfte aller Unterhaus-Abgeordneten mit dem von der JRP konzipierten Wahlsystem, die andere Hälfte mit dem Proportional- Wahlsystem zu wählen.

Wie aber hat die Wählerschaft, vor allem die jüngere Generation, auf das Projekt reagiert? Die Tatsache, daß die Wahlbeteiligung als die bisher niedrigste gilt, sagt einiges aus. Darüber hinaus darf man nicht übersehen, daß es seit einigen Jahren hinter den Kulissen der konservativen Szene eine Diskussion gab, wie man analog zu den USA zwei große, miteinander konkurrierende und zugleich sich kompensierende konservative Parteien etablieren könnte. Das Stichwort „Reform“ war also ohne Zweifel an diese neo-konservative Bewegung gekoppelt und leider keineswegs an die sozialdemokratische oder kommunistische, geschweige denn an die der Bürgerinitiativen.

Die SPJ, die sich von ihrem seit dem Kriegsende verfochtenen Motto von „Anti-Krieg, Anti- Atomkraft“ durch die anvisierte Koalition mit diesen Neo-Konservativen hat abbringen lassen, erlitt schließlich als einzige Partei eine totale Niederlage. Aber warum mußte die japanische Sozialdemokratie eigentlich verlieren? Wegen der Krise des Sozialismus? Oder wegen der Unreife der Demokratie in Japan? Ja und nein. Solche Klischees können wohl nur die Erwartung westlicher politischer Intellektueller erfüllen. Seit der Nachkriegszeit hat die SPJ ihre raison d'être hauptsächlich aus der allgemeinen Armut und der Ablehnung jeglichen Militarismus im Gefolge der Kriegsniederlage gewonnen. Konkret: Sie erhielt starke Unterstützung von den Gewerkschaften, vielen pazifistischen Gruppen und des weiteren von kleinen Bürgerinitiativen, die nicht wie die deutschen Grünen/Alternativen eine eigene Partei haben gründen können. Die Tatsache, daß Japan inzwischen zu einer starken Wirtschaftsmacht geworden ist, bedeutet zugleich, daß die SPJ ihre reale Basis verloren hat. Ein immer zufriedenerer Mittelstand geht einher mit sinkenden Gewerkschaftsmitgliederzahlen. Wohin sind Armut und Kriegsmüdigkeit verschwunden? Offensichtlich nach außen, in die sogenannte Dritte Welt. Unter diesen Umständen müßten sich die japanischen Sozialdemokraten auch nach außen wenden. Aber leider kann man bis jetzt kaum eine interessante Außenpolitik oder Ansätze einer internationalen Politik bei ihnen entdecken, welche die bisherige militärische Außenpolitik der USA überwinden oder zumindest ihr entgegenstehen könnten.

Es ist eigentlich kein Wunder, daß die Politik der SPJ immer „unrealistisch“ erschien. Aber dieses „unrealistisch sein“ ist ein wichtiges Signal für alle Japaner, ihre Position in der Welt möglichst ernst zu reflektieren. Seit langem bedeutete das Wort „realistisch“ für japanische Politiker nur, sich mit den eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, zum Beispiel für ihren Wahlkreis, Straßen-, Brückenbauvorhaben und anderes durchzusetzen, was gerade die strukturelle Korruption entfachte. Diese Struktur wurde leider durch die Wahl keineswegs „reformiert“. Jedoch nicht nur in der Außenpolitik, sondern auch in ihrer Atom- und Steuerpolitik hat die SPJ ihre eigene Identität verloren. Die wesentliche Aufgabe, „Real“-Politik grundsätzlich zu reformieren, haben die Japaner nicht erfüllen können. Nun hat die SPJ mit ihrer Partizipation an der Koalition ihre „unrealistische“ Einstellung, die auch immer Ausdruck ihrer „Idealität“ war, verloren.

Es scheint, als ob die Geschichte der japanischen Nachkriegspolitik oberflächlich im Gegensatz zwischen Konservativen und Fortschrittlichen bestanden hätte. Aber in Wirklichkeit hat die jahrzehntelange konservative Politik ausschließlich eine Apathie gegen Politik per se evoziert. Im Gegensatz zum rapiden Fortschritt der Wirtschaft trat die politische Diskussion in Japan ironischerweise in den Hintergrund. Als einen Grund hierfür kann man die immer noch vorherrschende traditionelle Mentalität des Konformismus anführen, der das Gewicht auf die menschlichen Beziehungen legt und möglichst die durch Diskussionen verursachten Friktionen vermeidet. Diesem Konformismus kommt es im Prinzip nicht auf „Inhalte“ an. Wer Auseinandersetzung fordert, wird, wo er auch stehen mag, als „Zerstörer der Harmonie“ gebrandmarkt. Diese Tendenz gilt nicht nur für die Konservativen, sondern ist Disposition aller bisherigen Parteien.

Lehnt man jedoch eine „Reform“, die sich nur im Rahmen einer Nicht-Destruktion der Tradition bewegt, ab, so bleibt nichts anderes, als dem ganzen System den Rücken zuzukehren und sich auf die einzig verbliebene Artikulation von Widerstand zurückzuziehen – Apathie. Das wirkliche politische Problem Japans liegt deshalb vielleicht nicht so sehr im Gegensatz zwischen Konservativen und Fortschrittlichen, sondern in dem zwischen traditionellem Konservatismus und Apathie. Toshiaki Kobayashi

Philosoph und Autor, lebt z. Zt. in Berlin