Schlesinger, übernehmen Sie!

Finanzminister und Notenbankchefs am Rande des Nervenzusammenbruchs / Fünf Möglichkeiten gibt es, das Chaos zu beenden / Die deutschen Zinsen müssen runter  ■ Von Nicola Liebert

Auch die letzte große EWS- Krise im September 1992, als englisches Pfund und italienische Lira vorläufig aus dem Wechselkurssystem ausstiegen, begann an einem Wochenende. Am Freitag nachmittag machen die Börsen dicht, so daß die Spekulanten dann keine Chance mehr haben, auf die Gerüchte aus den verschiedenen Hauptstädten zu reagieren und die Turbulenzen des Währungssystems noch weiter anzuheizen. So mußten sie am Samstag und Sonntag den Journalsiten das Geschäft überlassen, zu spekulieren, was hinter verschlossenen Türen in Brüssel ausbaldowert wurde.

Klar war nur: die Finanzminister und Notenbankchefs mußten bis Sonntag abend zu einem Beschluß kommen. Fünf Möglichkeiten sind dabei denkbar. Erstens, die Zentralbanker und Finanzminister könnten an den bisherigen Wechselkursen festhalten, nach der Devise „Augen zu und durch“, solange bis die Spekulanten aufgeben und die bedrängten Währungen in Ruhe lassen. Das würde bedeuten, daß die Zentralbanken enorme Summen für Stützungskäufe aufwenden müßten – wahrscheinlich jedoch sind ihre Mittel erheblich knapper als die Summen, die Spekulanten, Investment Fonds, Großbanken und Konzerne zur Verfügung haben.

Zweitens, der Wechselkursmechanismus könnte für eine Weile ausgesetzt werden, so lange, bis sich die Gemüter auf den Devisenbörsen beruhigt haben. An den fundamentalen Ungleichgewichten ändert sich durch ein Aussetzen nichts. Allerdings ginge das Zeichen in die falsche Richtung, denn die europäische Einigung würde dadurch ein ganzes Stück unwahrscheinlicher.

Drittens, der Franc könnte, wie zuvor schon Pfund und Lira, aussteigen. Wenn eine Kernwährung den Wechselkursmechanismus verläßt, wäre das EWS allerdings nicht mehr viel wert. Oder, die allzu starke Mark könnte eine Zeitlang das EWS verlassen. Das würde den anderen Ländern erlauben, sofort drastisch die Zinsen zu senken, was zur Konjunkturankurbelung dringend nötig wäre.

Viertens, eine grundsätzliche Neufestlegung der Wechselkurse würde auf eine Aufwertung von Mark und Gulden, eine Abwertung des französischen und belgischen Francs und der Krone sowie eine noch drastischere Abwertung der iberischen Währungen hinauslaufen. Dies ist die wahrscheinlichste Möglichkeit, da sie das EWS nicht grundsätzlich in Frage stellen würde. Grundsätzliche Differenzen in der Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder werden dadurch aber nicht behoben.

Fünftens, und dies könnte zu einer Anpassung der Wechselkurse hinzukommen, könnten die EWS- Regeln neu formuliert werden: häufigere kleine Wechselkursanpassungen, größere Schwankungsbreiten der Währungen untereinander und Maßnahmen gegen Spekulanten wie eine Besteuerung von Währungstransaktionen wären denbar.

Soll das EWS überleben, muß in jedem Fall das Problem der deutschen Zinsen behoben werden. Denn die Tatsache, daß die Bundesbank sich letzten Donnerstag weigerte, nennenswerte Zinssenkungen durchzuführen, gab den neuerlichen Turbulenzen erst so richtig Nahrung. Für Frankreich und die anderen Schwachwährungsländer ist es nicht länger zumutbar, ihre Zinsen so hoch zu halten. Denn einerseits hat Frankreich keine nennenswerte Inflation, so daß keine Politik des knappen Geldes nötig ist. Andererseits liegt die Arbeitslosigkeit bei elf Prozent, während die Wirtschaftsleistung schrumpft – nach neuester Berechnung um 0,7 Prozent. Da sind hohe Zinsen, die Investitionen verteuern, tödlich. Kein Wunder, daß in Frankreich Stimmen laut wurden, daß ein Ausstieg aus dem EWS erst einmal alle Probleme lösen würde. Die Spekulanten hatten allen Grund, darauf zu wetten, daß weder Frankreich noch Belgien oder Dänemark auf Dauer mit überhöhten Zinsen leben könnten. Eine Zinssenkung können sich diese Länder im gegenwärtigen Wechselkurssystem aber nicht leisten, da sonst ihre Währungen abstürzen.

In dieser Situation liegt es an der Bundesrepublik, Schritte einzuleiten. Die Zinsen müssen runter, selbst wenn dadurch die Inflation eine Zeitlang anstiege. Die Bundesregierung kann nicht darauf hoffen, einerseits die deutsche Einheit durch Anwerfen der Geldpresse zu finanzieren, gleichzeitig die Inflation wie eh und je auf niedrigem Stand zu halten und auch noch die europäische Union voranzutreiben, als wäre nichts geschehen. Jedenfalls zeigen die gegenwärtigen Turbulenzen, daß die anderen EWS-Mitgliedstaaten nicht länger die deutsche Hochzinspolitik mittragen können. Die Bonner Regierung muß, wenn die Bundesbank nicht freiwillig die Zinsen senkt, entsprechenden Druck auf Schlesinger ausüben. Denn daß die Bundesbank von Regierungsanweisungen unabhängig ist, stimmt zwar, aber auf dem politischen Ohr gänzlich taub ist sie nicht.