Für ein multikulturelles Baltikum

Zwei Jahre dauert die Unabhängigkeit der baltischen Staaten, doch noch immer kämpfen sie mit den Folgen der fünfzigjährigen sowjetischen Kolonialisierung / Und so ist die Kritik an den „nationalistischen“ Gesetzen oft unzutreffend  ■ Von Christian Booß

Demonstrationen seit 1988. Politische Feste der „singenden Revolution“. Tote und Verwundete, als im Januar 1991 sowjetische Panzer auffuhren. Die Zeitungsausschnitte lassen die Auseinandersetzungen um die Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten noch einmal lebendig werden.

Und sie schildern noch einmal die Pressionsversuche aus Moskau: Vilnius fror im letzten Winter, weil russische Erdöllieferungen ausblieben. Langwierige Verhandlungen über den Abzug der Militärs, um die Bürgerrechte für die Russen in Estland und Lettland. Mühselig wird der Knoten wieder aufgeschnürt, der mit der Besetzung 1940 immer fester gezogen wurde.

Litauen, der südlichste Baltikumsstaat war damals ein Agrarstaat. Die Industrialisierung setzte unter Stalin ein. Noch wirkt Litauen ländlich. Doch der sowjetisch-industrielle Komplex hat tiefe Spuren hinterlassen. Zum Beispiel in Elektrenai, vor den Toren der Hauptstadt Vilnius. Elektrenai ist ein konventionelles Großkraftwerk: 1960 gebaut ist es so groß, daß es ganz Litauen mit Strom versorgen könnte. Über 1.000 Beschäftigte arbeiten hier, für sie wurde gleich nebenan eine eigene Stadt gleichen Namens errichtet, nebst Kulturhaus und Sportzentrum. Heute jedoch läuft Elektrenai nur im stand-by-Betrieb, denn das Werk ist von den sowjetischen Öl-Lieferungen abhängig. Seit der Unabhängigkeit Litauens sind sie ganz oder teilweise ausgeblieben oder kaum mehr bezahlbar.

Diese Abhängigkeit war typisch nicht nur für die Energieversorgung, sondern für das gesamte sowjetische Wirtschaftssystem. Seine Verteidiger loben seine Rationalität: Die Sowjetunion mit ihren sechs Zeitzonen hätte durch den Energieverbund viel an Kraftwerkskapazitäten einsparen können. Denn die Spitzenlasten konnten so ausgeglichen werden. Andere, wie der stellvertretende Umwelt- und Energieminister Litauens verweisen auf die negativen Seiten. Man sei so abhängig vom Goodwill Moskaus. Außerdem muß Litauen jetzt aus Öl- und Geldknappheit seinen Atomreaktor vom Typ Tschernobyl, „Ignalina“, trotz Sicherheitsrisiken weiterbetreiben.

Die Verflechtung und Struktur der sowjetischen Wirtschaft hat also keineswegs nur ökonomische Gründe, sondern auch einen Herrschaftsaspekt. Energieversorger und Zulieferer, Produktionsbetriebe und Abnehmer sollten so eng miteinander verflochten werden, daß sie ihre Existenz riskieren, wenn sie sich aus diesem Geflecht lösen. Nachdem mit dem politischen System der UdSSR und des gesamten RGW aber auch das Handelssystem zusammenbrach, stehen viele ex-sowjetische Großbetriebe im Baltikum heute vor dem Bankrott.

So wurden in Vilnius Zehntausende von Einspritzpumpen für sowjetische Panzer produziert. Da in Rußland erheblich weniger Panzer gebaut werden sollen, ist auch die litauische Fabrik in Gefahr. In Lettland nennt man die Monopolbetriebe „weiße Elefanten“. Noch werden sie weiter durchgefüttert, noch produzieren sie, doch für ihre Waren fehlen die Käufer.

Auch im Baltikum gibt es so die „Kurzarbeit Null“. Die Arbeiter gehen nach wie vor in ihre Betriebe, arbeiten aber nur zwei bis drei Tage die Woche. Entsprechend verdienen sie weniger, entsprechend niedrig ist auch die amtliche Arbeitslosenstatistik, die die verdeckte Arbeitslosigkeit unterschlägt. Die Frage ist nur, wie lange steht dieses Kartenhaus?

„Der große Crash kommt erst noch“, meint man im Wirtschaftsministerium von Vilnius. Erst vor kurzem haben die baltischen Staaten Konkursgesetze beschlossen, die eine Liquidierung der Großbetriebe erlauben und baltische Politiker quer durch alle politischen Lager wollen dieses Gesetz auch anwenden. „Wir können uns die weißen Elefanten einfach nicht mehr leisten“, meint ein Ex-Kommunist, heute Sozialdemokrat. Doch die Betriebsstillegungen dürften nicht nur dramatische soziale, sondern auch politische Folgen haben: Denn die meisten Arbeiter in den Großbetrieben sind Russen.

Die baltischen Staaten befanden sich in einer quasikolonialen Abhängigkeit, kolonial fast im klassischen Sinn: Die Sowjetunion exportierte ihr System ins Baltikum, ihre Verwaltungsstruktur, ihren staatlich gelenkten Wirtschaftsaufbau, ihre Kader, die sich als Elite in Wirtschaft, Verwaltung und Politik etablierten. Einen bemerkenswerten Unterschied gab es freilich zur kolonialen Ausbeutung der sogenannten Dritten durch die Erste Welt: Der Lebensstandard war insbesondere in Estland bedeutend höher als in den meisten Sowjetrepubliken. Doch der Moskauer Herrschaftsbereich war mit Garnisonen und Militärhäfen abgesichert, die zum Teil bis heute weiterexistieren und die baltische „Arrondierung“ verlief äußerst leidvoll und brutal. Von den 1,2 Millionen Esten lebten nach dem Krieg nur noch 800.000 in Estland. Die übrigen waren Opfer von Krieg und Besetzung und der Deportation nach Sibirien. Die Besetzung des Baltikums nach dem Hitler-Stalinpakt 1940 bzw. nach der Zurückdrängung der Hitlerschen Wehrmacht hat sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegraben. Viele der politischen Probleme resultieren aus Kriegs- und Besatzungsfolgen. Besetzung, Deportation und Exil prägten auch die neue politische Elite. Lennart Meri, der estnische Präsident war in Sibirien. 10 Prozent der Esten und Letten leben im Exil, 25 Prozent der Litauer.

Andererseits sind viele Balten von einem historischen Selbstbewußtsein geprägt: „Viele Besatzer sind über die Jahrhunderte gekommen, aber irgendwann mußten sie auch immer gehen, wir Esten sind immer geblieben.“ So hoffen viele Balten, daß auch die Russen wieder gehen, vor allem dort, wo sie die „Einheimischen“ zahlenmäßig dominieren.

Die russischen Zuwanderer siedelten weniger auf dem Land, was – von einigen Landstrichen abgesehen –, fast noch homogen baltisch ist. Unterschiedlich ist auch der Anteil der Russen in den einzelnen Staaten: In Litauen stellen sie weniger als 20, in Estland 30, in Lettland 34 Prozent der Bevölkerung. Große russische „Kolonien“ gibt es vor allem in den Industrie-, Verwaltungs- und Hafenstädten, hier sind die Balten gelegentlich sogar in der Minderheit (Riga: 65 Prozent Nichtletten; Narwa: 96 Prozent Russen).

Gesetze, die klingen wie „Russen raus“ haben im Westen zu scharfer politischer Kritik geführt: Sollte der Nationalismus, der Ende der 80er Jahre eine befreiende Funktion hatte, jetzt in Intoleranz umschlagen? Diese Frage unterschlägt einerseits, daß der Unabhängigkeitskampf zwar nationale Töne hatte, aber auch viele Nicht- Balten beteiligt waren. Und zum anderen kann sich das Baltikum vor allem in den Städten auf eine multikulturelle Tradition berufen.

Was im Westen zumeist übersehen wird: Gerade die aktuelle Debatte um die Begrenzung der Zahl der Vollstaatsbürger knüpft an diese Traditionen an, nämlich an das quasi „goldene Zeitalter“, jener kurzen Zeitspanne nach dem Ersten Weltkrieg, als die baltischen Staaten unabhängig waren. Damals waren die baltischen Städte, geprägt von Handel, Handwerk und Industrie, multikulturell. Neben den Balten lebten dort Weißrussen, Polen, Russen, Juden, Deutsche. Die Minderheitenrechte waren zum Teil auch für heutige Zeiten vorbildlich.

In Riga hatte jede ethnische Gruppe ihre eigenen Schulen, die Glaubensrichtungen ihre eigenen Gotteshäuser. Genau an diese Zeiten knüpfen viele der neuen baltischen Politiker an.

Mart Laar, der Ministerpräsident Estlands, dem Land, das das umstrittendste Ausbürgerungsgesetz vorgelegt hat, gilt als ein fast schon besessener Forscher der Akten der 20er Jahre. Die meisten Balten wollen nicht alle Russen rauswerfen, sie wollen mit ihnen und anderen ethnischen Gruppen auskommen wie in der Zwischenkriegszeit.

Es gibt auch Indizien, das dies ernst gemeint ist. Der Leiter der jüdischen Schule in Riga ist der Ansicht, daß die Juden selten in einem so toleranten Umfeld haben leben können, wie derzeit in Lettland.

Allerdings sind die Balten der beiden nördlicheren Länder der Ansicht, daß es bei ihnen zu „viele“ Russen gibt. Ihre Zahl wollen sie auf ein „vernünftiges“ Maß zurückdrängen. Typisch erscheint die Problembeschreibung von Uides Augskallus, dessen lettische Volksfront zwar nicht ins Parlament gewählt wurde, der aber dennoch den Mainstream in dieser Frage verkörpert.

Augskallus unterscheidet drei Gruppen: 1. Lettische Bürger, die schon vor 1940 im Lande lebten und deren Nachfahren. 2. Okkupanten, das sind sowjetische Militärs und KGB-Leute. Sie sollen sofort zurück. 3. Kolonisten, das sind die Russen, die sich seit 1940 ansiedelten und dort gearbeitet haben. Sie sollen nach einem Quotenprinzip ein potentielles Einbürgerungsrecht erhalten.

Die Quote soll aber so begrenzt sein, daß die Letten immer in der deutlichen Mehrheit bleiben. Vorstellungen, mittels Sprachprüfungen die Einbürgerungszahlen zu reduzieren oder durch Verbote der Doppelstaatsbürgerschaft Russen zur Rückkehr nach Rußland zu bewegen, dienen letztlich demselben Zweck.

Immer wieder kritisiert wird die „Ungereimtheit“ vieler Bestimmungen: Die Mutter der Dolmetscherin Swetlana in Riga wurde von den Deutschen als Zwangsarbeiterin dorthin deportiert. Sie lernte ihren Mann, einen Russen, nach dem Krieg dort kennen und blieb. Swetlana ist in Riga geboren. Sie versteht die Welt nicht mehr, da sie als „Russin nach 1940“ kein Bürgerrecht bekommt. Doch Swetlana meint, ihr Land sei Lettland, mit Rußland verbindet sie nichts.

Ein anderes Beispiel: Die Industriestadt Narva, im Norden Estlands, an der Grenze zu Rußland. Über 90 Prozent der Einwohner sind Russen. Wer soll nach Kommunalwahlen dort die Stadtverwaltung stellen, wenn die Russen vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, fragen besorgt auch Esten wie der Politologieprofessor Gabriel Hazak.

Daß es in dieser Situation und unter den Bedingungen von Arbeitslosigkeit zu einem Bürgerkrieg kommen könnte, bezweifeln Einheimische, wie Beobachter. „Wir sind nicht so erregbar, wie die im Kaukasus“, meint eine Frau in Riga. „Wir sind einfach langsamer“, meint eine andere in Tallin.

Es gibt freilich auch wahre Horrormeldungen. „Lettland den Letten“ zum Beispiel wurde im Rahmen des lettischen Wahlkampfes in Kreisen der „Bewegung für nationale Verständigung“ (LNNK) propagiert.

Das klingt nach deutschem Skinheadgegröle und diese Assoziation ist nicht ganz falsch. Den rechten Flügel der LNNK hat ein Herr namens Siegerist mit guter deutscher DM gestärkt. Dieser Herr beruft sich auf eine baltische Abstammung, hat sich aber die Jahre vor der Unabhängigkeit damit vertrieben, in Deutschland nationalistische bis rechtsextreme Kreise zu fördern, weswegen gegen ihn auch der Hamburger Staatsschutz ermittelt. Das Problem Siegerist offenbart ein generelles der neuen baltischen Poltiik. Sie ist keineswegs nur geprägt von der historischen Erfahrung der letzten 50 Jahre, sondern auch von Interessengruppen.

Die Parteien sind – mit Ausnahme der postkommunistischen – zumeist instabile Gebilde, ohne eine feste, zahlungskräftige Mitgliederschaft, ohne Apparat. Die meisten der 23 Parteien, die sich kürzlich in Lettland zur Wahl stellten, sind Klüngel, Ein-Personenveranstaltungen von Prominenten. Sie alle leiden unter Geldmangel und sind daher anfällig für Sponsoren von außen. Diese rekrutieren sich nicht selten aus jenen Exilbalten, die in den USA, in Kanada, in Australien ihr Glück machten. Und die haben sehr materielle Interessen im Baltikum.

Denn an der Bürgerrechtsfrage hängt auch die der Eigentumsrestitution. Daß das Privateigentum an Grund und Boden zurückgegeben werden soll, steht für die Balten mit ihrer privatbäuerlichen Tradition fest.

Doch soll die Bodenrückübertragung mit einer Bodenreform verbunden, die Größe des Besitzes also begrenzt werden? Soll auch städtische Grundstücke und Häuser handelbares Volleigentum werden; sollen auch Fabriken zurückgegeben werden; sollen die, die 50 Jahre lang im Sowjetsystem ausharrten, gegenüber den reichen Rückkehrern einen Ausgleich erhalten? Das sind alles Fragen, die noch nicht vollständig beantwortet sind und in den drei Staaten unterschiedlich gesehen werden. „Wir wissen noch nicht, ob es gut ist, daß auch die Nicht-Esten alles Eigentum zurückbekommen“, sagte eine Stadtführerin in Tallin, „denn sonst würden alle schönen Häuser hier am Rathaus den Juden und Russen gehören.“

Ökonomische Fragen verknüpfen sich also mit der ethnischen Bürgerrechtsfrage, heizen das Klima mit an. Für Kritik sorgt auch, daß die Russen zu den größten Investoren bei der Privatisierung baltische Betriebe gehören. Daß hier gelegentlich der KGB schwarze Gelder wusch, gilt zumindest bei der Treuhand in Tallin als durchaus wahrscheinlich.

Die Zukunft des Baltikums wird aber auch von der Frage abhängen, ob man sich mehr nach Westen oder mehr nach Osten orientiert. Hier spricht vieles für ein pragmatisches Vorgehen: Genug Westöffnung, um nicht einseitig abhängig zu werden, eine Ostöffnung, um Absatzmärkte, Rohstoffzufuhr und die nötige Tonnage für die Ostseehäfen halten zu können. Warum, soll nicht Lettland weiterhin den beliebten Latviakleinbus nach Rußland liefern, Litauen das Nahrungsmittelangebot dort aufbessern helfen, Estland weiterhin St. Petersburger Vorortbahnen mit Elektromotoren beliefern und dafür russisches Erdöl und Gas erhalten? Das könnte den wirtschaftlichen Kollaps verhindern.

Dennoch stehen aus politischen Gründen die Chancen für Vernunftlösungen nicht gerade gut. Boris Jelzin, so kann man es in den Zeitungen lesen, kritisiert scharf die angebliche Minderheitendiskriminierung und die „ethnische Säuberung“ im Baltikum. Ein angesehener und wichtiger Mann im russischen Machtpoker, St. Petersburger Bürgermeister Antoli Sobtschak meint, die estnischen Bürgerrechtsgesetze seien Gesetze wie unter den Nazis.

Das überzogene Vokabular läßt die Frage aufkommen, ob der russische Dreh am Erdölhahn möglicherweise auch anderem dient als der Verteidigung der russischen Bevölkerungsrechte, nämlich der Neubegründung eines großrussischen Machtanspruches. Tatsächlich hofft Sobtschak auf eine neue Föderation. Einen Polizei- oder Armeeeinsatz Rußlands gegen die ehemaligen Sowjetrepubliken lehnt er aber ab.

Es scheint als spekulieren viele russische Politiker auf einen Kolonialismus neuen Typs. Ähnlich wie bei den entkolonialisierten Ländern der Dritten Welt könnte dieser in ökonomischen Abhängigkeiten und partiellen „Hilfe“ im Fall von innenpolitischen Querelen begründet sein.

Ob die baltischen Staaten diesem Sog entgehen, wird daher einerseits von der Wirtschaftspolitik abhängen, zum anderen von der zivilen Lösung der Bürgerrechtsfrage. Das Baltikum braucht einen neuen multikulturellen Konsens. Allerdings können 50 Jahre sowjetischer Kolonialismus, Vertreibung, Beschränkung der politischen, kulturellen und religiösen Autonomie und militärischen Besetzung des Baltikums nicht ohne Berücksichtigung bleiben.