Die meisten flüchten in die Bücher

■ Literatur hinter Gittern: Die Gefängnisbibliothek Oslebshausen leiht Romane, Comix und Recht-Ratgeber an die Häftlinge aus

Montag, 16.15 Uhr: Haus 1 steht auf dem Ausleihplan hinter der Tür. Eine Handvoll Männer mit Plastiktüten und Tragetaschen in der Hand betreten den Raum. Begleitet werden sie von einem jungen Beamten mit Funkgerät. Vor einer Vietelstunde hatte Bibliotheksleiter Wolfgang Reinink Haus 1 antelefoniert: „Hallo, hier ist der Büchertreff, kommt ihr?“ Einmal die Woche haben die Insassen von Haus 1 für eine Stunde Gelegenheit, in der Gefängnisbibliothek Bücher zu tauschen und mal kurz zu schnacken.

Ein Transistorradio dudelt vor sich hin, Rauchen ist erlaubt. „Der MacLean war echt ein guter Tip“, meint einer im Vorübergehen, ein anderer ruft: „Ist das neue Geo-Heft schon da?" Wolfgang Reinink grüßt seine Leser. Er ist Chef der vier Bibliotheken in den Strafvollzugsanstalten Oslebshausen, U-Haft, Blockland und Bremerhaven. Sie alle sind der Bremer Stadtbibliothek zugeordnet, die einen Jahresetat von 30.000 Mark stellt und den Leiter und eine Halbtagskraft bezahlt. Die Bibliothek in der Männerhaftanstalt Oslebshausen ist die Zentrale und die größte der vier Einrichtungen, die insgesamt rund 20.000 Bücher, Kassetten und Zeitschriften in den Regalen haben.

An diesem sonnigen Montagnachmittag steht die Tür zu dem kleinen Gebäude mitten auf dem JVA-Gelände weit offen. Wer den sogenannten „roten Ausweis“ an Jacke oder Hose hängen hat, kann täglich zwischen acht Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags hierherkommen, die anderen Vollzugsgruppen zu ihren festgelegten Besuchszeiten. Für diejenigen, die beim schulpädagogischen Dienst im anliegenden Gebäude Hauptschule, Realschule oder Berufsschule absolvieren, macht die Bibliothek zweimal die Woche in der Pause die Tür auf.

Zum Nachschlagen in der kleinen Handbibliothek, zum Zeitunglesen auf dem Sofa im Nebenraum oder zum Ausleihen von Fachliteratur aus dem Sachbuchbestand. „Jeder hat hier das Recht auf freie Information wie alle draußen“, sagt Wolfgang Reinink. „Offiziell wird von Senatsseite aus nicht indiziert. Ich selbst habe mir jedoch meinen eigenen Index gemacht: Ich kaufe keine Waffenbücher und keine Literatur, die unreflektiert Gewalt gleich welcher Art verherrlicht.“

Dafür umso mehr Titel für das interne Spezialgebiet Recht, für die Renner Esoterik, Psychohygiene, EDV, Comics, Thriller, Krimis und Fantasy-Romane. Thorsten aus Haus 1 meint: „Ich lese Science-Fictions und Horrorbücher, aber auch Wissenschaftliches und Esoterik. Da interessieren mich vor allem Tarot und buddhistische Sachen — ich bin im Knast, weil ich aus der Mitte raus bin, und will meine Mitte wiederfinden.“

Knapp über 47.000 Titel haben die vier JVA-Bibliotheken im letzten Jahr rausgegeben. An Gefangene, die zum Großteil vorher nicht gelesen haben. In der U-Haft, wo die Insassen 23 Stunden am Tag eingeschlossen sind, läuft die Buchausleihe über Wunschzettel. Die Bücher werden vor die Zelle gelegt, bis ein Wärter vorbeikommt und aufschließt. Das kann oft Stunden dauern. Reinink: „Die Neuen bekommen erstmal die Zugangsbücher, alte und zerlesene Teile, die ruhig aus zerrissen werden können. Bücher sind auch Aggressionsobjekt.“

Der Insasse, der die Ein- Raum-Bibliothek der U-Haft (der sich selbst gern als Bücherknecht bezeichnet) betreut, erzählt: „Die Drogenleute lesen erstmal Comics. Ein junger Junkie hat 15 Comics am Tag, liest dreimal dieselben und merkt das gar nicht. Später dann kannst du den Leuten auch mal einen LeCarre oder Stephen King empfehlen. Du mußt das denen aber anbieten, viele trauen sich nicht. Das ist wie im Kaufhaus.“ Der Bücherknecht identifiziert sich mit seiner Arbeit. Er hat Blümchen auf dem Tisch und einen zerfransten Zettel an die Wand gepinnt: „Es wird wieder mehr gelesen.“

Sechs Gefangene sind in den vier JVA-Bibliotheken mitbeschäftigt. Sie werden von Wolfgang Reinink ganz gezielt ausgewählt: „Ich suche da vor allem in der Branche Betrüger, weil das Kaufleute sind, die auch den Schreibtisch nicht scheuen. Leider gibt es ja wenige straffällige Bibliothekare!“

Seit 13 Jahren arbeitet Reinink hier. Er schleppt Bücher in Metallwäschekörben von Haus zu Haus, versorgt auch das Lazarett mit Literatur und kämpft permanent gegen Mißstände. „Das hier ist ein Brennpunkt, eine offene Wunde in der Gesellschaft. In dem Job kann man sich nur engagieren; wenn das Engagement weg ist, mußt du aufhören.“

Im Moment droht der Knast überzuquellen, die strafrechtliche Verfolgung von Asylbewerbern schlägt sich nieder. Die Bibliothek versucht mit mehr fremdsprachiger Literatur zu reagieren. Defitite gibt es vor allem bei polnischen, rumänischen oder russischen Titeln. Ansonsten gibt es in fast allen Sprachen zumindest einige Bücher, die ständig zwischen den Gefängnisbibliotheken hin- und hergetauscht werden. Zur Not drückt Reinink ausländischen Lesern auch mal einen Bildband in die Hand.

„Ich bringe meine zwölf Jungs gerne hierher und lasse ihnen auch Zeit“, sagt der Beamte von Haus 1, der kurz nach Fünf noch auf den letzten wartet. „Die fühlen sich wohl hier, das spricht sich bei den anderen rum.“ Als die beiden weg sind, bringt Wolfgang Reinink seine Mitarbeiter zu ihren Zellen. Eine Stunde später sitzt er mit seiner Literaturgruppe wieder in der Bibliothek. Silvia Plahl