Mit dem Hebel philosophiert

Die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis der Suppe? Vilém Flusser beginnt seine phänomenologische Recherche bei unseren alltäglichen Dingen, bei Schach, Straßenlaternen und dem Bett. Und endet – bei Platon  ■ Von Rüdiger Zill

„Unsere Umwelt bestand noch vor kurzem aus Dingen: aus Häusern und Möbelstücken, aus Maschinen und Fahrzeugen, aus Kleidern und Wäsche, aus Büchern und Bildern, aus Konservenbüchsen und Zigaretten. [...] Das ist leider anders geworden. Undinge dringen gegenwärtig von allen Seiten in unsere Umwelt, und sie verdrängen die Dinge. Man nennt diese Undinge ,Informationen‘.“ Gerade mit der Analyse dieser Entdinglichung ist Vilém Flusser in den achtziger Jahren bei uns bekannt geworden. Mit Büchern wie „Für eine Philosophie der Fotografie“ und „Ins Universum der technischen Bilder“ hat er sich als der Philosoph der „telematischen Gesellschaft“ einen Namen gemacht.

Ein zentrales Thema der frühen Bücher klingt auch in seiner neuesten, nun postum erscheinenden Essay-Sammlung „Dinge und Undinge“ wieder an: das Schicksal unserer Freiheit im Zeitalter der Undinge. Sie werden uns, so Flusser, von der Arbeit befreien. Wir bleiben vor den Terminals zurück und müssen nur noch eines: entscheiden. Die Freiheit, die wir dadurch gewönnen, sei aber nur Schein, sie vollziehe sich nur im Rahmen der Computerprogramme oder im Rahmen irgendeines anderen Programms: dem der Schreibmaschine, des Klaviers, des Fernsehens, des Telefons ... Aber auch der Programmierer sei nicht Herr seiner Freiheit, er sei selbst wieder nur irgendeinem Metaprogramm unterworfen. „Nein: Die Gesellschaft der undinglichen Zukunft wird klassenlos sein, eine Gesellschaft programmierender Programmierter. Dies also ist die Entscheidungsfreiheit, für welche uns die Emanzipation von der Arbeit öffnet. Der programmierte Totalitarismus.“ Allerdings würden jene Programme immer besser, die Zahl unserer Wahlmöglichkeiten vergrößere sich ständig, so daß sich der drohende Totalitarismus schließlich als sehr befriedigend erweisen werde, als ein Totalitarismus, der für die Beteiligten nicht mehr als solcher wahrnehmbar sei. „Sichtbar ist er nur in seinem gegenwärtigen embryonalen Zustand. Wir sind vielleicht die letzte Generation jener, die einsehen können, was sich da vorbereitet.“ Und weil sich Flusser als Mitglied einer aussterbenden Spezies versteht, als Dinosaurier mit Reiseschreibmaschine, schillern seine Texte in jener merkwürdigen Ambivalenz, die manchen irritiert. Einmal erscheint er als fröhlicher Prophet der telematischen Zukunft, dann auch wieder als düsterer Apokalyptiker. In welchem Licht man die kommenden Ereignisse sehe, sei, wie er besonders in seinem Essay über Straßenlampen betont, eine Frage der Perspektive. Stehe man auf dem Standpunkt der alten Werte und Erkenntnismuster – Geschichte, Politik, Kunst –, müsse die Diagnose pessimistisch ausfallen; die Kinder jener Entwicklung aber seien schon Produkte der Werte, die diese Entwicklung selbst geschaffen haben. Vom Standpunkt der Nachgeschichte und der Massenkultur änderten sich die Vorzeichen. Aber Flussers Annahmen über die neue Qualität der Undinge, die uns alle zu programmierten Programmierern machen, sind zu glatt. Denn an keiner Stelle wird wirklich plausibel, warum es sich hierbei um eine neue Qualität handeln soll. Schließlich hat schon jedes herkömmliche Ding diese Eigenschaft: nur dazu verwendbar zu sein, was im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt. Die Freiheit, die uns der erste Pflug beschert hat, war – flusserisch gesprochen – begrenzt durch das Programm jenes rohen Ackerbaugeräts.

In der Tat widmet sich Flusser nun in „Dinge und Undinge“ vor allem solch einfachen Gegenständen wie Flaschen, Wänden und Straßenlampen, Stöcken oder Teppichen, seinem Atlas, dem Hebel oder Rädern. Um neue Technologien geht es seltener, um Undinge direkt sogar nur in zwei der sechzehn Essays. Was Flusser vor allem interessiert, sind die Dinge als unsere Bedingungen. Und obwohl er selbst in „Das Unding II“ noch diese Opposition von Gegenständlichem und Ungegenständlichem heraushebt, scheint er insgeheim doch schon die Konsequenz gezogen zu haben: Ein Hebel bedingt unser Tun und Lassen vielleicht graduell, aber nicht prinzipiell anders als ein Heimcomputer. Denn auch das ist eine Möglichkeit, seine Freiheit zu realiseren: gegen die Programme der Dinge spielen. Dazu muß man versuchen, auf sie zu reflektieren, um die Bedingungen transparent zu machen. Man muß die Gewohnheiten durchbrechen, den Dingen ihre Gewöhnlichkeit nehmen.

„Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum erstenmal, ist eine Methode, an ihnen bisher unbeachtete Aspekte zu entdecken. Es ist eine gewaltige und fruchtbare Methode, aber sie erfordert strenge Disziplin und kann darum leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im Grunde in einem Vergessen, in einem Ausklammern der Gewöhnung an das angesehene Ding, also aller Erfahrung und Kenntnis von dem Ding“, schreibt Flusser in dem Essay „Schach“, der seine phänomenologische Methode zum Gegenstand hat.

Der Versuch, das Schachspiel, Gegenstände überhaupt, unbefangen zu betrachten, muß scheitern. Flusser diagnostiziert dieses Scheitern so: Man könne, wenn man das Spiel beschreibe, sich zwar von den Konventionen des Schachs befreien, dies gelinge aber nur um den Preis, sich anderer Konventionen bedienen zu müssen. Denn wenn ich mich von allen Wahrnehmungsmustern befreien würde, sähe ich die Dinge überhaupt nicht, könnte sie gar nicht beschreiben. Die Perspektive, die ich benutze, bestimmt, was ich an den Dingen entdecke, anders gesagt: Um etwas an ihnen zu entdecken, muß ich das, was ich an ihnen entdecken will, vorher schon gekannt, aber vergessen haben – kann sie also nur wiederentdecken. – Flusser entdeckt hier, man staunt, Platons Anamnesis-Theorie wieder.

Der Phänomenologe beschließt seine methodischen Reflexionen: „Es ist mir also nicht gelungen, dem Schach gegenüber eine unvoreingenommene Stellung einzunehmen. Sondern nur eine Zahl von Stellungen, die vor mir andere ihm gegenüber eingenommen haben, von denen ich weiß, die ich aber vergessen hatte. Da ich mich bemühte, alles, was ich vom Schach weiß, zu vergessen, habe ich mich an diese anderen Vergessen erinnert.“ Auf diese Weise sei das Scheitern letztlich doch ungemein produktiv.

Die Frage nach den Bedingungen, die jedem Erkennen unvermeidlich immer schon vorausliegen, ist eine Zentralfrage der Philosophie seit Kant. Sie anhand von Töpfen oder Schöpflöffeln und Suppen erneut zu stellen hat nichts Provokatives, sondern etwas unfreiwillig Komisches, obwohl oder besser: gerade weil sie so besinnlich-tümelnd daherkommt. Im Klappentext verspricht uns ein Lektor, daß aus den scharfsinnigen Beobachtungen von Alltagsdingen, aus einem „Sichversenken in einfachste Gegenstände“ eine überraschende Philosophie erwachse. Philosophische Grundsatzprobleme sprießen denn auch allenthalben in Flussers essayistischen Laborkulturen, sei es das Leib-Seele-Problem, sei es Ekel und Schmerz, sei es auch die Frage nach den letzten Dingen.

Aber die Distanz zwischen phänomenologisch betrachtetem Alltag und (anti-)metaphysischen Seinsfragen bleibt letztlich zu groß, die Verbindung erscheint meist gesucht. Hier versucht einer, mit dem Hebel zu philosophieren, und der ist zu kurz. Das zeigt sich etwa in dem umfangreichsten Essay der Sammlung: „Das Bett“. Flusser macht sich nacheinander über sieben wesentliche Tätigkeiten, die mit dem Bett verbunden sind, seine Gedanken: Geburt, Lesen Schlaf, Liebe, Schlaflosigkeit, Krankheit und Tod. Aus der symmetrischen Anordnung entspringt manche artistische Finesse; manches der mehr als häufigen Sprachspiele klingt recht hübsch, aber alles in allem bleibt das Ergebnis kontingent. Nehmen wir nur die Liebe. Der Abschnitt beginnt: „Die andere. Ich erkenne mich in dir, du bist mein Beben, Beben der anderen. Wir beben, ich und du. meine andere. Wir beben in der Umarmung. Etwas hat uns umarmt. Was ist dieses Etwas, dieses ganz andere Etwas?“ Um keine falschen Erwartungen zu erwecken: Trotz allen Bebens und trotz des Titels – um die Liebe, die gewöhnlich im Bett stattfindet, geht es im folgenden nicht, sondern um die Einsamkeit, die „Du“ und „Ich“ im „Wir“ überwinden. Und in solchen Passagen erscheint das ganze Buch dann in neuem Licht. Hier will es als Martin-Buber-Parodie, als Persiflage auf den großen Heidegger gelesen werden. Und dann endlich wissen wir: Es ist gelungene Prosa.

Vilém Flusser: „Dinge und Undinge“. Phänomenologische Skizzen. Hanser Verlag 1993, 152 Seiten, 34 DM