45. Biennale von Venedig: Oliviero Toscani

Da standen sie, naserümpfend, die kunstsinnigen Besucher der 45. Biennale von Venedig: Wie hatte dieser Werbefritze es nun wieder geschafft, derartig raumgreifend in den Kunstbetrieb einzusteigen? Während sich die mehr oder weniger hippen jungen Künstlerinnen und Künstler schrill und kreischend zum ewig überflüssigen „Aperto“ zusammenfanden, hatte Oliviero Toscani, Art-director und Fotograf von Benetton, im selben Gebäude einen riesigen Saal zugewiesen bekommen, den er auf drei Wänden tapeziert hatte. The United Colors of Sexes: die menschliche Scham als Porträt, jene begehrliche Kreuzung von Kreatürlichem und Individuellem. Hell und dunkel, glänzend und schrumpelig, zugewachsen oder ausrasiert: ein umfassendes Inventar des laut ausposaunten Geheimnisses des Westens, die ewig verlockende Sexualität, das Tier in uns, jetzt noch ruhend und nicht von dieser Welt, und gleich auf dem Sprung. Toscanis Gestus ist entwaffnend: frontal, Studiolicht, heller Hintergrund, fertig. Die Kinder stehen maßstabsgerecht etwas weiter von der Kamera entfernt als die Erwachsenen. Indem Toscani einzelne Motive wiederholt, verweist er auf die Systematik seiner Arbeit; es geht nicht darum, Einzigartigkeit zu behaupten. Ein Teil des Motivs wurde am Tag der Pressevorschau in Venedig in der französischen Tageszeitung „Libération“ als Farbanzeige geschaltet: Das ist es, was die Kunstwelt auf die Palme bringt. Toscani provoziert nicht, indem er sich als Künstler darstellt, sondern indem er die Differenz ignoriert. Seine Arbeit gehört zu den besten der Biennale. Bis zum 10. Oktober. Foto: Oliviero Toscani

Text: Ulf Erdmann Ziegler