Tscheljabinsk-65: Störfall Nr. ???

■ Radioaktiver Schlick aus russischer WAA ausgetreten / Offiziell bereits 1.500mal mehr Strahlung als beim Störfall vor zwei Wochen

Berlin (taz) – Die Plutoniumfabrik Tscheljabinsk-65 im Südural strahlt schon wieder jenseits jeder Norm. In der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage, die 70 Kilometer von der Millionenstadt Tscheljabinsk entfernt liegt, sind am Montag um 11.55 Uhr (Ortszeit) zwei Kubikmeter radioaktiver Schlick aus einer Leitung ausgelaufen – so das russische Atomministerium gestern. Nach Informationen von Greenpeace Moskau war das Rohr im Fabrikgebäude N 22 schlicht verrostet. Durch die Leitung wurde flüssiger Atommüll gepumpt.

Das Ministerium teilte mit, daß bei dem Störfall rund 300 Millicurie Radioaktivität an die Umwelt abgegeben wurden – gut 1.500mal soviel wie beim Atomunfall in der gleichen Fabrik vor reichlich zwei Wochen. Die zulässigen Grenzwerte seien dennoch nicht überschritten worden, heißt es in der Erklärung. Das verseuchte Areal sei bereits dekontaminiert und Werkspersonal auch nicht zu Schaden gekommen.

Die Bevölkerung der benachbarten Millionenmetropole Tscheljabinsk erfuhr von dem Störfall zunächst nichts. Erst auf Nachfrage erklärte die Bezirksverwaltung der grünen Abgeordneten Natalja Mironowa, daß Radioaktivität freigesetzt worden sei und 100 Quadratmeter Werksgelände verseucht wären. Um welche Flüssigkeit es sich handele, brauche man ihr nicht mitzuteilen, da der Vorfall an und für sich unbedeutend sei.

Christian Küppers vom Darmstädter Öko-Institut sagte der taz, wenn die offiziellen Angaben stimmten, könne es sich nicht um wirklich hochradioaktiven Müll handeln. Die Belastung von etwa einer Millionen Bequerell pro Kilo reiche dafür nicht aus. Die radioaktive Belastung der Arbeiter und der Bevölkerung in der geschlossenen Stadt Tscheljabinsk-65 hänge nach einem solchen Störfall vor allem davon ab, ob die strahlenden Materialien leichtflüchtig gewesen seien.

In Tscheljabinsk war schon am 19. Juli ein Plutoniumbehälter explodiert. Teile des strahlenden Ultragifts hatten durch den Schornstein die Anlage verlassen.

In den russischen Atomanlagen herrscht im Augenblick ohnehin große Unruhe. Die Angestellten fühlen sich schlecht bezahlt und drohen mit Streik. Allenthalben fehlen Ersatzteile. Junge Experten wandern ab, um sich in der Privatwirtschaft besser bezahlte Jobs zu suchen.

Tscheljabinsk-65 ist 1945 bis 1948 von Zwangsarbeitern gebaut worden und hat in den vergangenen 40 Jahren unter strengster Geheimhaltung etwa die Hälfte des sowjetischen Waffenplutoniums produziert. 1957 explodierte in der Anlage ein Atommüllbehälter und verstrahlte über 20.000 Quadratkilometer Land. Hunderttausende Menschen wurden durch die Atomkatastrophe verstrahlt, Zehntausende mußten evakuiert werden. Heute wird in Tscheljabinsk-65 auch Plutonium für die NASA separiert. Hermann-Josef Tenhagen