Jeden Tag „Menschen flicken“

Trotz UN-Schutzzone können die Vasallen Saddam Husseins die Kurden im Nordirak weiterhin terrorisieren / Hinzu kommen immer wieder türkische und iranische Übergriffe  ■ Aus Erbil Hasan Hussain und Kai Horstmeier

Parksünder aufschreiben ist ein gefährlicher Job in Irakisch-Kurdistan. Leicht könnte der Wagen am Straßenrand in die Luft fliegen. Denn die Vasallen Saddam Husseins verstecken ihre Bomben gern in Autos, die sie in der Nähe gutbesuchter Plätze abstellen.

Vor kurzem erst hatte die Polizei in der kurdischen Hauptstadt Erbil rechtzeitig einen Wagen vor dem Sherin-Hotel entdeckt. Fünfzig Kilo TNT waren darin verstaut – die Explosion hätte ein Blutbad angerichtet. Vornehmlich ausländische Journalisten und Geschäftsleute quartieren sich im Sherin ein, regeln von dort aus ihre Geschäfte und treffen Vertreter der kurdischen Regierung.

Nach dem Krieg am Golf vor zwei Jahren flohen zweieinhalb Millionen Kurden in die Türkei und in den Iran. Brutal hatte der irakische Diktator den kurdischen Volksaufstand gegen sein Regime niedergeschlagen. Damit die Kurden zurückkehren konnten und vor den Schergen Saddam Husseins sicher waren, erklärte die UNO damals den Nordirak bis zum 36. Breitengrad zur Schutzzone. Erstmals in ihrer Geschichte haben die Kurden im Mai 1992 eine eigene Regierung gewählt. Bereits im Vorfeld hatte Saddam Hussein reagiert und ein Embargo gegen sie verhängt. Die Grenzen zur Türkei, durch die trotz des UN- Embargos gegen den Irak Güter in den Norden des Landes transportiert werden, sind wiederholt geschlossen worden. Die Türkei bombardierte das nördliche Gebiet der irakischen Kurden, um dort Stellungen der türkisch-kurdischen PKK zu treffen. Parallel dazu müssen die nordirakischen Kurden auch an ihrer Ostgrenze immer wieder mit Angriffen rechnen, denn die iranische Regierung hegt gegen den kurdischen Schutzzonenstaat im Nordirak sowenig Sympathien wie das Regime in Bagdad. Erst in diesen Tagen griff die iranische Armee wieder irakisch-kurdische Dörfer im Osten an.

„Seit Saddam das Embargo gegen uns verhängte, fehlt es an allen Ecken und Enden“, sagt der Direktor des Krankenhauses von Zakho, Dr. Chorshid. Demonstrativ öffnet er den Medikamenten- Schrank: Nur ein paar Mullbinden und Pillen liegen darin. Seine tägliche Arbeit nennt er „Menschen flicken“. Vor allem die Bewohner der umliegenden Dörfer sind es, die von den Minen zerfetzt werden – Saddam ist gegangen, die Minen sind geblieben. Rund zweihundert Menschen warten jeden Tag vor dem Krankenhaus auf medizinische Versorgung.

„Azadi“, Freiheit, so heißt das Krankenhaus von Dohuk, eine Autostunde von Zakho entfernt. Früher hieß es „Saddam-Hussein- Krankenhaus“, wie alle anderen im Irak auch. Über die Versorgungslage sagt Chorshids Kollege in Dohuk, Dr. Ghazi: „Es wäre das einfachste, eine Liste von den Dingen zu machen, die wir haben.“

Die Landstraße von Dohuk ins Barzan-Tal in der Provinz Erbil führt durch Ortschaften, die in mühseliger Arbeit gerade erst wieder aufgebaut werden. Von den 5.000 Dörfern in der Region hat die irakische Regierung zwischen 1974 und 1988 rund 4.500 zerstört. Anhalten möchte man in den grünen Tälern, um auf die Berge zu steigen oder über die Wiesen voller Mohnblumen zu laufen. Doch das könnte tödlich enden: Alle paar Meter warnen rote Schilder vor den Minen.

Verschwenderisch hat Saddam hier seine Villen bauen lassen – zwei auf hundert Kilometer. Der Diktator hatte einst vom zweiten Stock einer solchen Villa hinterm Sicherheitszaun die Gegend im Blick – den Rest erledigten seine Truppen. Heute stehen die Villen leer. Alles, was brauchbar war, haben die Kurden demontiert: die Elektrik, die Türen, die Abflußrohre. Damit bauen sie ihre eigenen Dörfer wieder auf.

An den Plätzen von Dohuk prangen jetzt nicht mehr die riesigen Saddam-Portraits auf den Fassaden. Heute sind es die Bilder von kurdischen Politikern und gefallenen Peschmerga, Freiheitskämpfern, die daran erinnern, wie Saddam in den vergangenen Jahrzehnten mit den Kurden umgesprungen ist. An der Straße nordwestlich der Stadt liegt der Gestank von Benzin in der Luft. Ein riesiges Heer von Händlern verkauft Zigaretten und Alkohol. Hier kommen die Lastwagen aus der Türkei an, deren Fahrer das Embargo gebrochen haben: Am Straßenrand bieten sie ein Gut an, das in diesem Teil eines der ölreichsten Staaten der Welt zur Mangelware geworden ist: Benzin. Sie haben die gefüllten Kanister an der Straße gestapelt. Ob die ölige Flüssigkeit im Boden versickert und irgendwann das Grundwasser vergiftet, schert heutzutage niemand.

Wie der Treibstoff ist auch der Strom infolge des doppelten Embargos gegen den Nordirak Mangelware. Wann die Lichter in Dohuk brennen und wann nicht, weiß man im voraus nie. Das E-Werk der Region liegt in Mossul – außerhalb der Schutzzone, unter Saddam Husseins Kontrolle. Von dort aus führt das Regime in Bagdad seinen Zermürbungskrieg gegen die Kurden. Willkürlich drehen sie den Strom ab – und wieder an. Manchmal gibt es eine ganze Woche keine Elektrizität. „Man spürt Saddam, obwohl er nicht da ist“, meint ein Mann hinter seiner Kanister-Pyramide.

Der Handel und die Not. Zusammen treiben sie in Irakisch- Kurdistan seltsame Blüten: Gut zwei Meter hoch stapelt sich in einem kleinen Laden im Basar von Dohuk das Papier vor der braunen Holztheke. Es handelt sich um Geld – wertlose irakische Dinare. Wer kann schon etwas damit anfangen bei einer Inflation von rund 1.800 Prozent im Monat? Wichtig für den Handel in Irakisch-Kurdistan sind – wie überall – die Devisen. Wer in Syrien oder der Türkei einkaufen will, braucht US-Dollars. Und die kann man hier kaufen – gegen Stapel von Dinar. Banken gibt es noch nicht, derzeit machen die Spekulanten das Geschäft. „Hier machen die neuen Millionäre ihr Geld“, kommentiert ein Ortsbewohner kopfschüttelnd die Dollar-Schieberei. Zwei Straßen weiter kaufen Frauen abgetragene Hemden im Basar. Alle Angebote sind „secondhand“, mehr können sich die meisten Leute nicht leisten. In Erbil ist das nicht anders: 20 Dinar – umgerechnet 1,20 Mark – kostet hier ein gebrauchtes Hemd. Rund 300 Dinar verdient ein Beamter in Irakisch- Kurdistan monatlich. Und auch das erst seit Anfang des Jahres: Im Oktober 1991 hatte Saddam Hussein die Gehälter gekappt – zwei Millionen Menschen im öffentlichen Dienst verloren von heute auf morgen ihr Einkommen. Die Ärzte und Lehrer haben trotzdem weitergearbeitet.

Zwar kassiert die kurdische Regierung heute bereits Steuern, aber viel kommt dabei nicht zusammen. Nasseh Abdul al-Ghafur, promovierter Politikwissenschaftler, hat in der kurdischen Regierung das Bildungs-Ressort übernommen. Für ihn fängt die Freiheit mit dem Lernen an. Aber seit kurdische Geschichte auf dem Lehrplan steht, kommt aus Bagdad kein einziges Schulbuch mehr. Al-Ghafur bringt auf den Punkt, was in Irakisch-Kurdistan nicht nur für die Bildung gilt: „Wir brauchen erst einmal die Bücher – dann können wir Schulen bauen.“