„Wir müssen unser Brot teilen“

Ein aidskranker Bluter initiierte in Brasilien eine Massenkampagne gegen Armut und Hungersnot / Soziale Neuauflage der Anti-Collor-Proteste / Auch Unternehmer machen mit  ■ Aus Rio Astrid Prange

Zu Hause knurrt ihnen der Magen, deswegen versuchen sie, auf der Straße zu überleben. „Was kann ich ihnen denn schon bieten? Seit fünf Monaten gibt es bei uns kein Fleisch“, klagt Deolinda Perreira. Ihr Sohn sitzt in einer Haftanstalt für straffällige Jugendliche ein, die fünfzehnjährige Tochter lebt auf der Straße. Am vergangenen Freitag, als brasilianische Polizisten im Stadtzentrum von Rio de Janeiro sieben Straßenkinder erschossen, entkam das Mädchen nur knapp dem Tode. Doch obwohl das Massaker sie traumatisiert hat, übernachtet sie schon wieder vor der Kirche „Candelaria“ im Zentrum.

Das Einkommensgefälle in Brasilien ist extrem – ein Fünftel der insgesamt 150 Millionen Brasilianer können sich von ihrem monatlichen Verdienst gerade die allernotwendigsten Grundnahrungsmittel kaufen. Von dem mickrigen Korb aus Reis und Bohnen wird noch nicht einmal eine Person satt, geschweige denn eine Familie. Sieben Millionen Einwohner der zehntgrößten Wirtschaftsmacht der Welt haben überhaupt kein Einkommen. Um ihr Überleben zu sichern, müssen sie betteln oder stehlen, wie die Straßenkinder von der „Candelaria“.

Hunger im Agrarland

Dabei produziert Brasilien jährlich 59 Millionen Tonnen Getreide und Hülsenfrüchte und gehört zu den größten Sojaexporteuren weltweit. Auch der Oberste Rechnungshof in Brasilia gibt zu, daß Hunger und Unterernährung einzig darauf zurückzuführen sind, daß große Teile der Bevölkerung über kein Geld verfügen, um die notwendigen Nahrungsmittel zu kaufen. Außerdem stellten die staatlichen Kontrolleure in allen sozialen Hilfsprogrammen der Regierung Unregelmäßigkeiten fest.

„Die Hungernden haben es eilig, und die Aidsinfizierten auch“, erklärt Herbert de Souza. Der 57jährige HIV-positive Bluter, in ganz Brasilien als „Betinho“ bekannt, führt die nationale Kampagne zur Bekämpfung der Hungersnot in Brasilien an. Obwohl sein Körpergewicht auf 47 Kilo gesunken ist, strotzt Betinho vor Zuversicht: „Ich habe mich noch nie so gut gefühlt wie jetzt“, versichert er. Der Grund: Betinho hat es geschafft, die brasilianische Gesellschaft, die sich mit der wachsenden Armut abgefunden zu haben schien, zu mobilisieren.

Lebensmittel statt Theaterkarten

In ganz Rio de Janeiro gründen auf seine Anregung hin Freiwillige Komitees, um Lebensmittelspenden zu sammeln und weiterzuverteilen. Die Liste der Bedürftigen wird vom brasilianischen Institut für wirtschaftliche und soziale Studien aus Rio, Ibase, herausgegebenen, dessen Vorsitzender Betinho ist. „Das wichtigste ist, daß bei der Kampagne weder Geld noch Politiker mitmischen“, meint der Schauspieler Cosme dos Santos: Seit Beginn der Hungerkampagne vor drei Monaten ist es in Rio Mode geworden, Eintrittskarten für Konzerte und Ausstellungen in Naturalien abzugelten.

Auch einige Unternehmen beteiligen sich mittlerweile an der Kampagne. Der größte Sojaproduzent Brasiliens, Olacyr de Moraes, bot Betinho kürzlich seine Mitarbeit an.

Die 45.000 Angestellten des staatlichen Elektrokonzerns „Eletrobras“ spendeten Bewohnern von Elendsvierteln die Gutscheine, mit denen sie normalerweise ihre Mittagessen in Restaurants bezahlen. Die brasilianische Bank „Banco do Brasil“ öffnet ihre zahlreichen Sportklubs im ganzen Land nun auch für Kinder aus armen Verhältnissen.

Der Soziologe Herbert de Souza vergleicht die Hungerkampagne mit der Massenbewegung zur Absetzung von Brasiliens Ex- Präsidenten Fernando Collor de Mello im Oktober vergangenen Jahres. Damals zwangen die landesweiten Proteste die Parlamentarier in der Hauptstadt Brasilia dazu, für die zwangsweise Amtsenthebung des korrupten Staatsoberhauptes zu stimmen. „Wir haben eine einzigartige Bewegung geschaffen“, ist er überzeugt. Die Bürger würden sich über ideologische Gräben hinwegsetzen und geschlossen für eine Sache eintreten.

Ein „Vater Teresa“?

Doch die Begeisterung über den Erfolg der Kampagne ändert nichts an der grundsätzlichen Kritik des Soziologen am neoliberalen Wirtschaftsmodell und der extremen Vermögenskonzentration in Brasilien. „Ich bin nicht dazu berufen, mich in eine zweite Mutter Teresa zu verwandeln, die die Armen vertröstet, während die Regierung auf der anderen Seite neues Elend produziert“, stellt de Souza klar.

Bis politische Proteste Wirkung zeigen, das weiß der ausgemergelte Mann mit den tiefliegenden Augen aber nur zu gut, sind bereits Millionen seiner Landsleute endgültig aus der Armut ins Elend abgestürzt. „Aus dem Bettlertum führt kein Weg mehr zurück. Wir müssen unser Brot teilen.“