Die Welt ist Vielklang

Berliner Label, die vierte: „Vielklang“ bietet tausend- (na, sagen wir zehn)fach alles unter einem Dach  ■ Von Andreas Becker

Ein Hinterhof in der Kreuzberger Forsterstraße. Vierter Stock, eine schwere Stahltür aufgedrückt, und vor uns liegt ein kleines Schallplatten-Imperium: diese Fabriketage verheißt „Vielklang“.

Vielklang, gegründet 1983, gehört mit Sicherheit zu den Großen unter den Kleinen – den unabhängigen Schallplattenfirmen Berlins. Überall hängen Konzertplakate, Platteninfos liegen auf dem Boden rum, an der Wand ein Regal mit einigen hundert Platten und CDs. Mitarbeiter huschen aus kleinen Glaskastenbüros schnell mal zum Kopierer auf dem Flur. Computer surren vor sich hin.

Sonst sieht alles aus wie bei einer ganz normalen Fabriketagen-WG. Nur die Küche ist zu klein. Jeder hat sein Zimmerchen mit Postern seiner Lieblingsbands tapeziert. Komischerweise ist keine Musik zu hören. Wahrscheinlich haben sich die Vielklang-Bewohner so lange mit ihren jeweiligen Musiken genervt, bis beschlossen wurde: jeder hört seinen Kram nur noch bei geschlossener Tür in seinem Zimmer.

Nach diesem Motto scheinen auch die verschiedenen Unterlabel der Firma zu arbeiten: unter der Überschrift Vielklang scheint man so ziemlich alles zu veröffentlichen, was jemandem in dem kleinen Imperium gefällt. Vom Alternativ-Schlager bis zur Weltmusik – alles ist möglich. Nur die Qualitätskontrolle scheint zu funktionieren, eine klare Richtung ist unsichtbar.

Greifen wir also relativ wahllos einen raus, der in einem der Guckkästen sitzt: Matthias Bröckel, neben Jörg Fukking Geschäftsführer. An seinen Bürowänden Plakate von den Bad Manners, Butlers, No Sports. Stets mit auf dem Bild: Hüte, schwere Stiefel und Karos. Die Frage nach Matthias' Musikgeschmack erübrigt sich: der Mann ist Ska-Fan. Sein Label heißt Pork Pie und kümmert sich um Ska. Markenzeichen ist das Lederhütchen. Pork Pie ist eines der Sublabel, die von Vielklang vermarktet oder betreut werden.

Skinheads against Politics

Matthias hat ein Problem, das er nicht als „sein Problem“ erachtet: er ist Skinhead.

In der aufgeheizten Atmosphäre, in der Weizsäckerisierung das Gegenmittel zum Ausländerhaß abgeben soll, hat sich die Öffentlichkeit unter Zuhilfenahme „der Medien“ einen Paradetäter gebastelt: den Skinhead. „Das größte Problem, das ich habe, ist, daß man gerade auch in der linken Szene, die sich ja für medien- und gesellschaftskritisch hält, auf absolut die gleichen Vorurteile stößt, wie vor zehn, fünzehn Jahren als Punk. Die Medien haben's wirklich geschafft, eine Gleichung herzustellen: Skinhead gleich Nazi. Die ist einfach so überhaupt nicht haltbar.“

Daß es auch Redskins, Sharp- Skins (Skins gegen Rassismus) oder einfach unpolitische Skins gibt, scheint im Moment kaum noch vermittelbar. Matthias, nebenbei Mitglied im Gay Skinhead Movement, hat keine Lust, sich ständig für seine kurzgeschorenen Haare zu rechtfertigen. Für ihn ist klar, daß Rassismus und Ska sowieso nicht zusammenpassen. Auf seinem T-Shirt steht trotzig: „Skinheads against Politics“.

„Ich bin letztens beim Konzert der Reality Brothers ins Boogaloo fast nicht reingekommen. Soll ich dem Türsteher sagen: ,Ich bin kein Fascho und außerdem von 'ner Plattenfirma‘? Die Leute sind oberflächlicher in der Beurteilung von Menschen geworden.“ Und ganz verkehrt liegt Matthias da sicher nicht: Es waren nicht in der Mehrzahl Skins, die in Rostock Steine geworfen oder Beifall geklatscht haben, sondern eben Normalbürger. Die Zusammenhänge sind älter und verzwickter: Ska liegt am Schnittpunkt der Geschichte von Punk- und Skintum. Das Problem, daß bei Ska-Konzerten auch immer wieder Grüppchen von Fascho-Skins auftauchen, gibt es nicht es erst seit Rostock.

Inzwischen befürchtet Matthias sogar ein undifferenziertes Verbot von Plattenlabels, die mit Skins in Verbindung gebracht werden. Pork Pie aber lebt. Erfrischender Beweis: Die Neuerscheinung der Ska-Nachwuchsband The Frits „Not enough for you“. Produziert hat Roger Lomas, der schon Legenden wie die Specials oder Madness abmischte. Lomas war so begeistert vom Skatrack der deutschen Frits, daß er sie gleich in sein Studio im englischen Osgarthorpe einlud.

Die Frits covern nicht nur Guns 'n' Roses, sie können auch ganz unhektischen Ska-Reggae machen. Eine Platte auch für Ska- Anfänger.

Magere Jahre

Neben Ska kümmert sich Vielklang vor allem um Berliner Pflänzchen, die dann häufig sogar über die Grenzen der Stadt hinaus wachsen und gedeihen. Die Planets wurden 1988 „big in Japan“, und die dortigen Teenie-Plattenkäufer brachten wertvolle Yen nach Kreuzberg. Weitere erfolgreiche Aushängeschilder waren die für Berliner Verhältnisse überdurchschnittlichen Bands Lolitas und Strangemen.

Die erfolgreichste Combo bei Vielklang aber waren bis heute Die Ärzte. 1983 erscheint die erste Platte der Wunderheiler aller Kindersorgen bei Vielklang. Das große Geschäft mit den Ärzten machte dann zwar die CBS, Vielklang selbst schaffte es aber 1989, nach Auflösung der Band, mit dem posthumen Album „Die Ärzte: Früher“ in die Charts, und zwar recht weit nach vorne. 220.000 Stück der scheinbar unheilbar toten Ärzte wurden verkauft. Einen Teil der frischen Banknoten brachte Vielklang mit einer Ärzte- Party für 1.200 Leute gleich wieder unters Volk. Außer den verblichenen Ärzten brachten die Goldenen Zitronen noch ein bißchen Geld in die Kassen.

Und ein Ding, das bei der Industrie zunächst keiner haben wollte: „Berlin, Berlin“ der inzwischen fast vergessene Sampel-Kinderchor-Schlager der „Gropius Lerchen“ zur 750-Jahr-Feier. „Zuerst wollte den Song keiner haben, und als dann zwei Jahre später die Mauer fiel, rannte die Industrie uns die Bude ein. Die Polydor ließ einen Remix machen, sagte aber zu uns: Wir bringen das Ding raus, aber ihr müßt die Tonträgerfertigung der ersten Auflage übernehmen.“

Bei einem Riesenkonzern wie Polydor vergehen einige Wochen oder Monate, bis eine Platte wirklich im Regal steht. Für die Halbwertszeit einer Berlin-Euphorie eine erwiesenermaßen zu lange Zeit. Der Multi-Indie Vielklang brauchte nur Tage: „Montagabend war der Mix fertig, Freitagmorgen um 11 waren die Platten im Auslieferungslager der Polygram in Hannover. Dann haben die noch 'ne Woche gebraucht, bis sie das in ihren Computer gekriegt und veröffentlicht haben.“

Besonders schnell arbeiten kann Vielklang auch, weil man in der Forsterstraße außerdem ein Studio und einen Verlag für Songrechte betreibt. Bei meinem Besuch arbeitet der algerische Sänger Hamid Baroudi gerade noch am endgültigen Mix seiner demnächst bei Vielklang erscheinenden Platte „City No Mad“. Hamid Baroudi war sechs Jahre Sänger der deutsch-internationalen Band Dissidenten. Die Dissidenten – vor zig Jahren spaltete sich ihre Fraktion aus der Band Embryo ab – machten mit Baroudi eingängige „Weltmusik“, die vor allem in den USA und in Japan gut ankam.

Im Vielklang-Studio hat der selbstbewußte Baroudi nun seine erste Soloplatte produziert, für die er vor allem gute Chancen in seiner Heimat Nordafrika sieht. Der Student der Hochschule für Film in Kassel hat, wie er stolz erzählt, zu sämtlichen neuen Titeln gleich noch eigenhändig Videos gedreht. Vielleicht schafft Vielklang mit Baroudi den ersten Hit in Afrika: „In Algerien kommen 8.000 Leute zu meinen Konzerten.“

Für Baroudi sind Professionalität und Kommerzialität kein Problem. Im Vielklang-Studio erlebe ich, wie der Sänger und der Toningenieur gemeinsam am Computer den letzten Songschliff besorgen. Herausgekommen ist eine stellenweise discoorientierte Mixtur, die aber immer wieder durch ausgefallene Einsprengsel überrascht, die einen mitten in die Wüste transportieren. Ein Stück klingt verdächtig nach Jasper van't Hofs Pili- Pili-Hit.

Vielklang, die Firma mit dem Saxophon spielenden Wüstenfuchs im Logo, hat die fetten Jahre hinter sich, meint jedenfalls Matthias. Inzwischen versucht man seine Kräfte zu konzentrieren, man könnte auch sagen: sich gesundzuschrumpfen. Das Sub-Label „City Slang“ – mit tollen Bands wie Yo La Tengo – hat sich selbständig gemacht, „Ruff & Roll“ aufgelöst. Um Hardrock kümmert sich nun „Stars In The Dark“, das – nur zum Beispiel – die Berliner Eggmen Five betreut.

Die Zeiten für kleine Labels scheinen härter zu werden. Vor allem durch die Explosion der CD- Preise sind immer weniger Käufer bereit, viel Geld in Platten von unbekannten Bands zu investieren. Deshalb will Vielklang in Zukunft Nachwuchsbands mit der Initiative „CD zum LP-Preis“ fördern.

Ein wenig wirkt das Vielklang- Labelsammelsurium wie eine Großfirma im Mikroskop betrachtet. Jeder bosselt in seinem Glaskasten vor sich hin und wundert sich, daß am Ende Musik dabei rauskommt.