Relative Begeisterung

■ Bilanz des 10. Sommertheater Festivals auf Kampnagel

Unter Festivalleitern gibt es zwei Typen, die vielleicht mit „Katechisten“ und „Anthologisten“ auseinandergehalten werden können. Erstere folgen ihrem Glauben an das niemals zu entschlüsselnde Wesen des Theaters, fügen sich ihren ästhetischen Instinkten und versuchen zu versammeln, was sie für das beste Theater der Zeit halten. Ihr größter Graus ist „das Thema“ oder „der Leitbegriff“, denn Eingrenzungen verletzen für sie - etwas pathetisch formuliert - die Heiligkeit des Gegenstandes. Diese Methode, wie sie in Deutschland etwa die Programmdirektorin des „Theaters der Welt“ Renate Klett vertritt, verleitet zum Kulinarischen, findet aber gelegentlich auch die vollendete Schönheit.

Zweitere, und zu ihnen gehören seit einigen Jahren auch die Leiter des Sommertheaters Gabriele Naumann und Dieter Jaenicke, schwören auf den Kontext, der sich unter einigen Leitvokabeln verbirgt, und ersehnen sich eine diskursive Struktur, die sie mit ihrer thematischen Auswahl provozieren möchten. Verbunden mit dem Anspruch, Avantgarde zu präsentieren, birgt diese Vorgehensweise entweder die Gefahr, ein Programm derartig mit Sinnstiftung zu überfrachten, daß sich die einzelnen Gruppen nur noch am Einladungstext messen können, oder eine so weitschweifige Sammlung zu präsentieren, daß der Kontext ein reines Konstrukt bleibt.

„Theater an den Schnittflächen der Kulturen“, das Thema des 10. Sommertheaters, das dieses Wochenende zuende ging, insbesondere in der politischen Konnotation, die ihm die Festivalleiter mitgegeben haben, hatte mit letzterem Problem ganz heftig zu kämpfen. Zwischen Bia Lessas Kindertheater für Erwachsene und Rachel Rosenthals Bildungsbürger-Schamanismus, den elastischen Stummlauten eines Alvaro Restrepo und der brachialen Wühlarbeit im kollektiven Unterbewußten von Reza Abdoh noch einen argumentativen Faden zu knüpfen, schien so absurd, daß es wohl auch niemand ernsthaft versucht hat. Doch selbst, wo man in den verschiedenen Stücken Aspekte einer Diskussion über Multikulturalität vorgestellt bekam, verschwanden diese hinter der primären Thematik der einzelnen Produktionen. Daß Reza Abdohs Attacke gegen verleugnete Körperlichkeit ebenso irgendetwas mit Kulturschnittmengen zu tun hat wie Restrepos Meditation über Autismus, um bei den Beispielen zu bleiben, ändert nichts daran, daß sie als thematische Arbeiten in diesem Zusammenhang nicht taugten.

Daß jene Künstler, die sich ganz explizit mit dem Oberthema beschäftigten, für die Talsohlen des dreiwöchigen Festivals sorgten, mag Zufall, kann aber auch Omen sein: David Rousseves unentschiedenes und oberflächliches Tanz-Erzähl-Theater Urban Scenes/Creole Dreams, lieferte die naive Annäherung an die Headline. Guillermo Gomez-Pena und Coco Fusco, denen mit ihrer situationistischen Performance New World (B)order nie die theatralische Vermittlung ihrer Überlegungen zum Rassismus in Amerika gelang, boten die intellektuelle. Das bieder-verrätselte Sarajevo-Projekt rückte dem Thema mit Sentimentalitäten und Mythen-Zapping auf die Pelle.

Andererseits ist dem Festival zu danken, daß Hamburg eine der wichtigsten Theater-Produktionen der letzten Jahre zu sehen bekam: Arbeit macht frei vom Toitland Europa des Theaterzentrums Akko, diese fünfstündige, überaus gescheite, gleichzeitig blaspehmische und respektvolle Auseinandersetzung mit der psychischen und gesellschaftlichen Bearbeitung des Holocaust schuf neue gedankliche Realitäten und Verständnisräume, ohne jemals didaktisch oder anklagend zu werden. Präzise in der Recherche, souverän in den Mitteln und unglaublich mutig, im hautnahen Umgang mit dem Publikum Tabus mit Fragen zu bedrängen, fand die Gruppe um Regisseur David Mayaan einen unverhofft gangbaren Weg, monströs Unbewältigtes mit theatralischen Mitteln zu besprechen.

Vor dieser gewaltigen Artikulation bekamen fast alle anderen Produktionen die Aura von Privatheit. Dennoch verführten auch die „Nebenschauplätze“ des Festivals zu relativer Begeisterung. Ohad Naharins intelligente Verjüngung von Ballettformen sorgte gemeinsam mit Reza Abdohs wütender Orgie The Law Of Remains zum Festivalauftakt für latente Euphorie, die dann mit der Premiere von Arbeit macht frei in einer unerwarteten Wendung um wirkliche, nachdenkende Ergriffenheit bereichert wurde. Die Handspring Puppet Company mit ihrer poetischen Adaption von Woyzeck für Puppen, Menschen und Video-Kunst beendete die erste überzeugende Woche, der eine Stimmungsabfahrt folgte. Drei Tanzgruppen setzten immerhin noch einige ästhetische Ausrufungszeichen: Germaine Acogny und Arona N'Diaye mit Ye'Ou zur Halbzeit, sowie Alvaro Restrepo, letztjähriger Pegasus-Preis-Gewinner, und die spanische Tanz-Compagnie Vicente Saez zum Ende.

28.000 Menschen sahen die 24 Produktionen (90 Prozent Auslastung), wollten aber meist nach den Veranstaltungen nicht auf dem Gelände bleiben. Regen, die katastrophale Gastronomie und das mangelnde Angebot an kleineren Schauplätzen, die zum Verweilen einladen, sorgten für die unfestliche Atmosphäre. Am Dienstag endet das 10. Sommertheater mit der Verleihung des Pegasus-Preises für die von einer Jury ausgewählte beste Produktion des Festivals. Das Thema für das nächste Jahr soll dem diesjährigen ähneln, versprach Dieter Jaenicke am Sonnabend - eine Offenbahrung, die nach diesem Jahr weder schreckt noch lockt

Till Briegleb