Sanssouci: Vorschlag:
■ Unwesen – in „Onkel Alfons‘ Haus“ von Bolschoi Berlin
Hauptsache, das Ambiente stimmt: Zur Grundrezeptur eines wirkungsvollen Krimis gehört – jedenfalls ganz im Sinne von Edgar Wallace – nebligstes, schaurigstes Moor. Und genau dort steht auch „Onkel Alfons‘ Haus“, das der neuen Produktion des Musiktheaters Bolschoi Berlin seinen Namen verliehen hat. Außer verregneter Moorlandschaft hat das Bolschoi-„Krimical“ jedoch wenig gemeinsam mit den plätschernden, verquasselten Whodunnits aus der Feder Mister Wallace. Das Ensemble läßt den Zuschauer durch seine Fenster blicken und entführt ihn auf eine irritierende Reise durch die Alpträume und die verknotete Psyche eines seltsamen, einsiedlerischen Quartetts mit seinen – grundlosen? – Ängsten vor der Außenwelt und vor sich selbst.
Paula (Kathel Netta) ist Gärtnerin und zufrieden, wenn sie im Matsch wühlen und Pflanzen zu auswuchernder Größe verhelfen kann. Sissy (Jana Kalina), die Bibliothekarin, leidet unter chronischer Nervosität und schluckt in einem fort Beruhigungspillen. Flavio (Octavio Campos) ist vor allem Amerikaner. Seine Hauptbeschäftigung ist „Gassi gehen“ mit Hund Bello. Schließlich ist da noch Onkel Alfons (Thomas Kleine), vor dessen bastelwütigen Händen kein Schräubchen im Haus sicher ist. Was die vier in „Onkel Alfons‘ Haus“ einstmals zusammengeschmiedet hat, ist nicht mehr zu eruieren. Tatsache ist jedoch ein im alltäglichen Umgang ritualisiertes Zusammenleben. Vieler Worte bedarf es nicht mehr, um die kleinen Pannen des Tages auszubügeln, den Matsch wegzuwischen oder die Schräubchen wieder dort anzuschrauben, wo sie hingehören. Die eingespielte Harmonie des Quartetts wäre langweilig, wenn nicht der große Unbekannte entscheidend in den Alltag eingreifen würde: Von einem obszönen Anrufer fühlt sich vor allem Sissy bedroht, die – in Panik und während eines Stromausfalls – aus Versehen gleich den Postboten erschießt. Hier beginnt nun scheinbar doch der „normale“ Krimi: Die Leiche muß weg und wird zunächst einmal in Alfons‘ Bastelkeller entsorgt. Dort macht sich ein dämonischer Onkel frankensteinmäßig an den Überresten zu schaffen und hypnotisiert die ganze Gemeinschaft aufs teuflischste. Oder auch nicht. In diesem Haus ist nichts mehr, was es scheint.
Das Bolschoi-Ensemble verzerrt die Ebenen zwischen Alptraum und Realität. Nur eines ist klar: Der große Unbekannte ist vor allem die eigene Angst, die Harmonie auf Dauer nicht zulassen will. Präzise erzeugt Bolschoi einen Suspense, der auch Hitchcock gefreut hätte: Nichts passiert, fast ohne Worte gehen die Figuren ihren Tätigkeiten nach, langsam, ohne Hektik, wird der banale Alltag gezeigt. Und doch liegt über allem eine fast unerträgliche Spannung, unterstützt durch einige psychedelische Einschübe in die Handlung und durch die atmosphäreverstärkende Musik von Ahmed Chouraqui, und immer wieder gebrochen durch eine geradezu slapstickhafte Komik.
Wenn man dieses „Krimical“ denn überhaupt genremäßig einordnen möchte, wäre die Gattung Psycho-Thriller wohl am passendsten, ohne jedoch, daß die Motive der einzelnen psychologisch erklärt würden. Das Fenster, durch das wir – bildlich – blicken, zeigt eine künstliche und kunstvolle Inselgemeinschaft, die einen Einblick in ihr Innenleben gewährt. Anja Poschen
Noch bis 30. August, Do.–Mo., 20.30 Uhr, bei den Freunden der Italienischen Oper, Fidicinstraße 40, Kreuzberg.
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