Urgewaltiger Ödipus & Bachexperimente

Avignons Festivalchef Faivre d'Acier setzte in diesem Jahr auf zeitgenössische Stücke – das soll so bleiben  ■ Von Jürgen Berger

Einmal sitzt Emile Abossolo- M'Bo neben einer der beiden Linden, die im Cloitre des Célestins natürwüchsig zum Bühnenbild dazugehören, und man meint, er sei ein Auswuchs des imposanten Baumes im Kreuzgang des Klosters. Der Schauspieler aus Kamerun spielt den Ödipus in einer Vielvölkerproduktion von Sophokles „Ödipus auf Kolonos“, inszeniert von einer Frau mit griechischen Eltern, die, in Äthiopien geboren, heute zu den vielversprechenden RegisseurInnen der französischen Szene zählt.

Der blinde Ödipus ist an den Toren Athens angelangt, verfolgt vom eigenen Sohn Polyneikes und Thebens König Kreon, geleitet von dessen Töchtern Antigone und Ismene. Kreon und Polyneikes wollen den Alten für ihre politischen Zwecke mißbrauchen, Athens König Theseus allerdings gewährt dem Verfolgten politisches Asyl. Dido Lykoudis inszeniert das als Konfrontation zweier Kulturen. Afrika trifft auf Europa, in der Waagschale liegen Blutrecht und das Asylrecht einer jungen Demokratie. Athen, das liegt bei Lykoudis entrückt auf der Stadtmauer, wo zwei Chorführer (besetzt mit französischen Schauspielern) verbeamtete Grenzwächter an der Grenze zum Slapstick spielen, während sich Ödipus' Drama unten im Kreuzgang abspielt. Doch die beiden werden allmählich zu mitfühlenden Beobachtern, und nachdem Kreon mit Gewalt die Auslieferung von Ödipus erzwingen wollte, sind die wurstigen Würfelspieler gereift, während König Theseus, anfänglich ein glatter Technokrat, über Nacht alterte.

Lykoudis inszeniert Gegensätze, im Falle von Antigone und Ismene arbeitet sie die zwischenmenschlichen Konflikte neben der großen Staatsaktion heraus. Antigone (Nicole Dogué) ist verbissen und eifersüchtig auf die Schwester, während Emile Abossolo M'Bo eine einsame Erscheinung in Avignon war, urgewaltig und mit einem verschlagenen Lachen, als sei nicht das Schicksal, sondern er selbst der große Spieler.

Ödipus ist unterwegs und muß am Ende sterben, wie auch Rosenkranz und Güldenstern in Tom Stoppards gleichnamigen Stück. In seinem Debut als Theaterautor hat Stoppard die Begleiter Hamlets von der Peripherie ins Zentrum gerückt, die Sinnlosigkeits-Clowns sind allerdings einem Spiel ausgeliefert, dessen Regeln sie nicht begreifen – in einem Stück, gespielt vom Gesher Theater aus Tel Aviv, das vor zwei Jahren von russischen Emigranten gegründet wurde, die allesamt zur Crème der Moskauer und Leningrader Theaterszene zählten. Exakt, aber auch etwas leblos inszeniert hat es Gesher- Mitgründer Yevgeny Arye.

Allumfassende Verwirrung könnte das Motto dieses Stückes lauten, während Frankreichs Kulturminister Jacques Toubon erste Entscheidungen fällt und einen neuen Generalintendanten für die Pariser Opern ernannt hat. Die Pariser Nebel lichten sich (siehe auch Kurzmeldungen), Hugues Gall, der zur Zeit noch die Genfer Oper leitet, soll ab 1995 von Paris aus das gesamte Opernwesen in Frankreich reorganisieren. Eine Personalentscheidung, die prompte Reaktionen wie die von Jean-Marie Horde (Chef der Pariser Bastille- Oper) auslöste, der meint, künftig werde auch in Frankreichs Kultur die Diktatur des Marktes herrschen. Er dürfte nicht ganz daneben liegen, da es nicht nur in Frankreich um die Zukunft des unabhängigen und ambitionierten Theaters geht.

Um so wichtiger also, daß der neue Festivalchef Bernhard Faivre d'Acier mit seinem Wiederbeginn in Avignon (er leitete das Festival schon einmal von 1980 bis 1985) einen eindeutigen Schwerpunkt auf zeitgenössische Stücke legte und diesen Kurs auch beibehalten will.

Gegen Ende des Festivals kam auch der Tanz zu seinem Recht, und Dominique Bagouets zeigte „Jours Etranges & So Schnell“. Bagouet, renommierter Leiter des nationalen Tanzzentrums in Montpellier, ist während der Vorbereitung seiner beiden Choreographen für den Ehrenhof des Papstpalastes in Avignon gestorben. Ein Tod, der in Frankreich auch deshalb Bestürzung hervorrief, weil die Zahl von Aids-Opfern in Frankreichs Kulturszene allmählich schmerzliche Lücken reißt. Wenn man jetzt noch einmal sein „Jours Etranges“ (eine Choreographie nach „Strange Days“ der Doors), und vor allem wenn man noch einmal „So Schnell“ nach einer Bach-Kantate gesehen hat, wird der Verlust besonders deutlich. Es ist eine der brillantesten Choreographien der letzten Zeit und eine der wichtigen Auseinandersetzungen des zeitgenössischen Tanzes mit klassischen musikalischen Vorlagen.

Bagouet hat zwischen die Arien und Choralchorsätze der Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig“ Pufferzonen aus Geräuschkollagen gesetzt. Die Tänzerinnen und Tänzer kommen zur Ruhe, testen Bewegungen aus, versuchen Ausgangspositionen zu finden, bevor sie weiter den schnellen Läufen nachspüren, die Bach in seinen Gesang über die Vergänglichkeit des Menschen einbaute. Das Merkwürdige an dieser Kantate: Obwohl Bach melancholische Verse wie „So schnell ein rauschend Wasser schießt,/So eilen unsers Lebens Tage“ musikalisch umsetzt, hat sie etwas Vorantreibendes, eine Spannung, in der sich auch Bagouets Choreographie bewegt, changierend zwischen Bewegungen, die zur Ruhe kommen wollen, und heiter-hüpfenden Passagen.

Bei Bagouet werden Tänzerinnen und Tänzer zu charakteristischen Persönlichkeiten, umso trauriger, daß man in Avignon die Auflösung einer Tanztruppe erleben mußte, die mit ihrem Choreographen für eine Generation des französischen Tanzens steht, die dem Gefängnis „Pina Bausch“ entkommen ist. Lange konnte man sich in Frankreich dem Sog ihrer Tanzbilder nicht entziehen, in den letzten Jahren allerdings hat man in unterschiedliche Richtungen experimentiert. Eine Entwicklung, die im Moment zum Stillstand zu kommen scheint, zugunsten von Choreographien mit folkloristischen Einschlägen.

Die Zeiten sind hart, und der verunsicherte Choreograph lebt stärker denn je in der Versuchung des Gefälligen, wie Jean-Françoise Duroure mit „Le langage des oiseaux“ (Die Sprache der Vögel), eines jener merkwürdigen Kunstprodukte eines Mitteleuropäers, der sich archaisches Leben aneignen will. „Gibt es nicht inmitten von Chaos und Zusammenhanglosigkeit ein Band, das uns mit einer tieferen und wahrhaftigeren Realität verbindet“, heißt es in einem Journal der Duroure-Truppe zu ihrer Choreographie nach maghrebinischer Musik. Man meint es ernst, und das, nachdem Dominique Bagouet seine Tänzerinnen und Tänzer vor zwei Jahren in „Necessito“ auf eine Reise in den Maghreb schickte, sie dabei aber ironisch distanziert vorführen ließ, daß der Mitteleuropäer immer ein staunender Tourist bleibt.

Auch „Le Chant du Karastan“ liegt auf der gefälligen Linie, eine eigens für Avignon zubereitete Choreographie Michel Hallet Eghayans aus Lyon, mit der er sich nach Armenien davonmacht und östlich angehauchte Folklore präsentiert. Man dachte schon, das sei es in Avignons Tanzabteilung denn gewesen, es kam allerdings noch Angelin Preljocjas „Hommage aux Ballets Russes“, drei Neubearbeitungen berühmter Diaghilev/ Nijinski-Choreographien vom Anfang dieses Jahrhunderts: „Parade“, „Le Spectre de la Rose“ und „Noces“. Besonders in „Le Spectre de la Rose“ nach Musik von Carl- Maria von Weber gelingt Preljocais Außergewöhnliches, indem er die Geschichte des Mädchens, das vom Ball heimkommt, einschläft und sich ihren Mann erträumt, auf zwei Ebenen tanzen läßt. In einem ausgeleuchteten Rechteck sieht man die klassische Version in Weiß, davor eine modern-harte, in der das erträumte Glück als Kampf der Körper am Rande der Vergewaltigung auf hohem Niveau von Sarah Ludi und Franck Chartier getanzt wird.

Preljocaj hat seine Hommage für die Pariser Garnier Oper zusammengestellt, in Avignon war sie der Abschluß des Festivals im Ehrenhof des Papstpalastes, eines Festivals, dessen 10-Millionen- Budget eine Kürzung von 200.000 Mark hinnehmen mußte. Faivre d'Acier verzichtete auf einen berühmten Spielort wie den Steinbruch, den Peter Brook für sein „Mahabharata“ entdeckte (allein ihn bespielbar zu machen, kostet jährlich nahezu 300.000 DM), trotzdem stieg die Zahl der Aufführungen, und am Ende war ein Zuschauerplus von 10 Prozent zu verzeichnen. Und das zu Zeiten eines entkräfteten Franc, der die Franzosen zur Bundesbank nach „Franc-fort“ (ein bitteres Wortspiel) blicken läßt, die an allem schuld sein soll.