■ Bill Clintons 202-Tage-Jogging durch die Präsidentschaft
: Von Monarchen und Teppichhändlern

Noch einmal die Rückblende, damit es warm ums Herz werde: Es ist der 20. Januar 1993 in Washington. Inauguration des Präsidenten. Der Tag, an dem die Amerikaner so tun, als hätten sie eine Monarchie, und der Präsident so tun kann, als gehörte ihm das ganze Land – und vor allem das Parlament. So viel zum Ende des Märchens. Das Problem ist, daß die Geschichte erst spannend wird, wo das Märchen aufhört.

9. August 1993 in Washington. Clinton, der 24-Stunden-Monarch, seit 202 Tagen nur noch Präsident, ist gerade an einem Desaster vorbeigeschlittert und hat seinen Haushaltsentwurf mit einem Vorsprung von drei Stimmen durch den Kongreß geboxt – einen Haushaltsentwurf, von dem manche behaupten, er unterscheide sich nur noch durch kosmetische demokratische Ingredienzen von der Wirtschaftspolitik eines George Bush. Er, der Präsident, muß fast jeden Gesetzentwurf der Öffentlichkeit und dem Kongreß verkaufen wie ein „Teppichhändler“ (ein Begriff, mit dem Helmut Kohl anläßlich seines letzten USA-Besuchs die amerikanische Publizistik bereicherte). Er, der Vietnamkriegsgegner (und Jurist), hat sich auf dem Völkerrecht die Füße abgeputzt und Bagdad bombardiert, weil er zu Hause einen kleinen Anschub in den Meinungsumfragen brauchte. Er, der Liberale, hat gekniffen, als es um eine der umstrittensten Fragen der Bürgerrechtspolitik ging: die Integration von Schwulen und Lesben in die Armee. Die so vom Hoffnungsträger um das Tragen ihrer Hoffnungen Betrogenen fragen sich nun mit geschwollenen Lippen, wie viele Frösche man eigentlich noch küssen muß, bis endlich ein progressiver Prinz herauskommt!

Spielraum gegen Null

Die Sache kompliziert sich, wenn man zwischen den eigenen Projektionen auf diesen Präsidenten und dessen realen Handlungsspielräumen zu unterscheiden versucht. Um Clintons Metamorphose vom Hoffnungsträger zum Teppichhändler zu erklären, sei vorweg eines betont: Bill Clinton war von vornherein objektiv kein starker, sondern ein schwacher Präsident. Der enorme Status, den der Präsident der Vereinigten Staaten in der Wahrnehmung des Auslands eingenommen hat, korrespondierte selten mit seiner realen innenpolitischen Macht. Allerdings haben fast alle Nachkriegspräsidenten die Rolle der USA als westliche Führungsmacht im Kalten Krieg für den Aufbau eines „starken“ Images nutzen können. Der Kalte Krieg und der damit verbundene Führungsanspruch war der bislang letzte öffentliche Diskurs, der in den USA eine hochgradig zersplittete Gesellschaft zusammengebracht hat – und damit entscheidend für die Bewertung des Präsidenten. Diese Bühne existiert nicht mehr. Bill Clinton hat die Leerstelle mit seiner Vision zu füllen versucht, wonach die USA ihren außenpolitischen Rang nicht mehr primär durch militärische Macht, sondern durch eine strukturelle Reform der Wirtschaft demonstrieren sollen. Das ist klug und vorausschauend gedacht, doch zum neuen ideologischen Bindemittel läßt es sich auf die schnelle nicht zusammenrühren. Clinton war dann inmitten innenpolitischer Turbulenzen Opportunist und Machtpolitiker genug, um Bagdad zu bombardieren. Das war ein „blutiges Initiationsritual“ (Warren Rosenblum, taz 1.7.93), mit der politischer Statusverlust und der „Makel“ fehlender Härte kompensiert werden können. Clinton hat sich diesem Ritus sicher mit mehr Bauchschmerzen unterworfen als andere Politiker. Aber letztlich gilt: Erst kommt die Meinungsumfrage, dann die Moral.

Nun lassen sich zahlreiche Gründe für den rapiden Verlust an öffentlicher Sympathie und politischem Spielraum anführen: eine unerfahrene, blutjunge Administration; eine ungewöhnlich unfreundliche Presse; Clintons notorischer Hang, Reformvorhaben und Gesetzentwürfe vorschnell anzukündigen – und dann nicht liefern zu können; eine republikanische Partei, die ihre unausweichliche ideologische und programmatische Neubestimmung erst einmal aufgeschoben und die Reihen fest geschlossen hat, um diesem Präsidenten keinen Punkt zu gönnen; und schließlich eine demokratische Partei, in der sich rechter, moderater und linker Parteiflügel mit fast selbstzerstörischer Bitterkeit um die Patenschaft für diese Administration streiten.

Um die hauchdünne Mehrheit für seinen Budgetentwurf zustandezubringen, mußte Clinton folglich seinen Haushaltsplan verhackstücken und sich die nötigen Stimmen der demokratischen Abgeordneten regelrecht erfeilschen. Bei der dramatischen Abstimmung im Kongreß ging es nur noch sekundär um das Budget. In erster Linie stand die Regierungsfähigkeit des Teppichhändlers auf dem Spiel – und die seiner Partei.

Clinton steht unter dem Dauerfeuer von Ross Perot und dessen populistisch auftrumpfender Demagogie. Das erklärt, warum das Credo des Multimillionärs, das Defizit müsse um jeden Preis redutiert werden, zum neuen politischen Fetisch in der amerikanischen Innenpolitik geworden ist. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die Reduzierung des jährlichen US- Haushaltsdefizits ist ein notwendiges Unternehmen. Doch in der öffentlichen Debatte und im politischen Entscheidungsprozeß benutzen es Republikaner (die größten Schuldenmacher in diesem Jahrhundert), Perot-Anhänger und konservative Demokraten als Totschlagargument gegen jedes staatliche Ausgabenprogramm. Unter dem Etikett der deficit reduction ist wieder die Antistaatlichkeit der Reagan-Bush-Ära in die Politik eingekehrt.

Kein schlechtes Ergebnis

Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist das Ergebnis der Haushaltsdebatte – und damit Clintons Ausgangsposition zum Regieren – noch recht brauchbar ausgefallen. Es ist keineswegs, wie manche in der US-Presse behaupten, ein Bush-Programm mit demokratischen Einsprengseln. Die obersten Einkommensschichten werden nach zwölf Jahren des großen Fressens mit Steuererhöhungen bedacht, während die unteren Einkommensschichten durch Steuergutschriften etwas mehr Sicherheitsabstand zur Armutsgrenze erhalten sollen. Das Problem ist: Um den Balanceakt zwischen Defizitreduzierung und Aufstieg aus der Rezession bestehen zu können, hätte Clinton Amerikas Suburbia, die Mittelschicht, zur Kasse bitten müssen – etwa durch die ursprünglich geplante, breit gefächerte Energiesteuer. Dafür politisch zu kämpfen, hatte er in den letzten beiden Monaten nicht genügend Stehvermögen.

Trotzdem: Nach dieser dramatischen Kraftprobe mit dem Parlament kann Clinton vorerst etwas ungestörter regieren, was seine Anfälligkeit für panischen Opportunismus reduziert. Für all diejenigen, die sich auf der linken Seite des politischen Spektrums um ihre Hoffnungen betrogen fühlen, mag ein wenig Nüchternheit heilsam sein. Den Opportunismus Clintons muß man nicht nur beklagen, man kann ihn durch außerparlamentarischen Druck auch nutzen. Gelegenheiten bieten sich in den nächsten Monaten genug: bei der Debatte um die Gesundheitsreform, um das Freihandelsabkommen NAFTA oder den Gesetzentwurf zum Schutz der Gewerkschaften.

Und die Moral von der Geschichte? Frösche zu küssen ist Zeitverschwendung. Andrea Böhm