Zeitenwende mit Pomp und Koka

In Bolivien übernahm die erste stark indianisch geprägte Regierung die Macht / Frischer Wind über den Anden: „Nicht stehlen, nicht faul sein, nicht lügen, nicht lobhudeln“  ■ Aus La Paz Thomas Pampuch

Es war ein Bild, wie man es sonst nicht kennt: Der neue Präsident trug einen Tunika-ähnlichen Poncho über dem Anzug, er hatte eine merkwürdige weiße Kappe auf dem Kopf, ein Zepter in der Hand und kaute Kokablätter. Auch sein Vizepräsident sah sehr indianisch aus – bloß bei ihm wirkte es ganz natürlich. Victor Hugo Cárdenas nämlich, der neue zweite Mann in Bolivien, ist ein Aymara, an den Ufern des Titicacasees geboren.

Die Tatsache, daß ein Indianer Vizepräsident des Andenstaates geworden ist, führte bereits vor dem Antritt der neuen Regierung am 6. August zu neuen Formen in den Ritualen der bolivianischen Politik. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte des Landes beteiligten sich die indianischen Völker Boliviens – sie stellen die große Mehrheit der sieben Millionen Einwohner – an der Machtübernahme einer neuen Regierung. Im Coliseo Cerrado von La Paz erschienen einen Tag vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Gonalo Sánchez de Losada rund 5.000 geladene Vertreter der Aymaras, Qetschuas, Guaranis und anderer pueblos originarios, um die neuen Führer des Landes auf ihre Weise zu inthronisieren.

Nachdem man „Goni“ und „Victor Hugo“ sowie deren beider Ehefrauen mit vielerlei Geschenken und Insignien der Macht, unter anderem Zepter und Peitsche, ausgestattet hatte, begann in der Mitte der riesigen Halle ein klassisches indianisches Ritual, das keineswegs aus devoten Gunstbezeugungen bestand. Vielmehr ging es sehr ernsthaft und konzentriert darum, mit Opfergaben an das Feuer den Schutz der andinen Götter zu erflehen. Eine Reihe sogenannter mesas (Gabentische) wurde verbrannt, und die hohen Herrschaften mußten das Feuer umschreiten, Chicha trinken und der Pachamama, der Mutter Erde, opfern. Und weil sie zuvor, als die Zeremonie bereits im Gange war, mit einigen ihrer Huldiger ein leutseliges Tänzchen gewagt hatten, mußten sie auch noch den Boden küssen und um Vergebung für diesen Fauxpas bitten.

Sánchez de Losada legte man ans Herz, den ersten Indio in so einem hohen Amt nicht zu verraten, wie es so oft in der bolivianischen Geschichte passiert ist. Dem Aymara Victor Hugo Cárdenas seinerseits riet man, sein Volk nicht zu verraten – auch das hat es schon gegeben. Und für beide gelten seit diesem Abend die vier klassischen Gesetze des Inkareiches: Ama sua, ama kella, ama lulla, ama llunku – nicht stehlen, nicht faul sein, nicht lügen, nicht lobhudeln.

Alle lieben Fidel Castro

Die offizielle Zeremonie des Machtwechsels einen Tag später im Parlament verlief dann wieder mehr nach dem üblichen Muster. Eine Reihe von Staatsmännern erschienen – so die Präsidenten von Argentinien, Peru, Kolumbien und überraschend auch Fidel Castro, der einen begeisterten Empfang erhielt. Carlos Menem, der Argentinier, sah sich genötigt, das Hotel, daß er mit Castro teilte, zu verlassen, weil er die vielen Hochrufe auf den Kubaner nicht mehr ertrug. Der trank fleißig Kokatee, sagte den Bolivianern viele Artigkeiten, und die huldigten ihm darauf noch heftiger.

Vor dem Parlament verabschiedete sich der alte Präsident mit einer langen Rede, in der er mit vielen Zahlen und Statistiken eine positive Bilanz seiner vier Jahre zu ziehen versuchte. Treuherzig gab er dabei aber auch zu, daß er zwar versucht habe, die Korruption zu bekämpfen, ihm aber „nicht der Erfolg, wie ich ihn mir gewünscht hätte“, beschieden gewesen sei. Selbstkritisch bekannte er, daß der Übergang im politischen und ökonomischen Bereich zwar gelungen sei, der Wandel im sozialen aber gerade erst anfange.

Der vielleicht hoffnungsvollste Ausdruck dieses Wandels zeigte sich, als nach ihm Victor Hugo Cárdenas als Vizepräsident und dann auch als Parlamentspräsident des Kongresses vereidigt wurde. Für eine halbe Stunde war da erstmals seit fast 500 Jahren wieder ein Indianer der mächtigste Mann im Lande. Cárdenas hielt eine Rede, die sowohl im Inhalt wie im Stil die Vision eines neuen Bolivien erkennen ließ: „Nach 500 Jahren kolonialen Schweigens und nach 168 Jahren des Ausgeschlossenseins in der Republik ist die Zeit für uns gekommen, unsere Wahrheit zu sagen. Unsere Geschichte ist die eines permanenten Kampfes um Freiheit und Gerechtigkeit, um die multi-kulturelle und die multi-ethnische Demokratie. Heute haben wir das Zeitalter eines neuen Pachakuti, eines fundamentalen Wandels, erreicht. Gemeinsam beginnen die Bolivianer nun, diese 500 Jahre des Ausschließens und der Marginalisierung zu überwinden und ein neues Khanatatawi zu schaffen, eine Periode der Teilhabe und der Demokratie, so wie es mich meine Eltern gelehrt haben.“ Und den großen Worten ließ der sprachmächtige Aymara sogleich eine Probe folgen: Nach dem feierlichen und perfekten Spanisch hielt er dann eine Rede in Aymara, darauf in Qetschua und schließlich in Guarani. Auch wenn das im Parlament nur die wenigsten verstanden – draußen auf der überfüllten Plaza Murillo und an den Radio- und TV-Geräten überall im Lande erreichte seine Botschaft wohl mehr Menschen als die Reden aller Präsidenten und Vizepräsidenten vor ihm.

Als Cárdenas nach diesem Beweis multi-kultureller Flexibilität Sánchez de Losada als neuen Präsidenten vereidigte, durfte man gespannt sein. Sánchez de Losada („Goni“) ist ein kluger und witziger Mann, und er machte aus der Not eine Tugend: Es sei auch ein Ausdruck der Vielsprachigkeit Boliviens, daß es nun einen Präsidenten habe, der das Spanisch mit einem solchen Akzent spreche wie er. Viktor Hugo habe ihm angeboten, ihm zu helfen, seinen Yankee- Akzent loszuwerden, aber auf den sei er stolz, da er auf das Exil seiner Eltern zurückgehe. Inflation habe es gegeben, seit die Chinesen das Papiergeld erfunden hätten, und Korruption, seit Eva Adam einen Apfel angeboten habe, doch das große Geheimnis sei es, sich vor Hyperinflation und Hyperkorruption zu schützen. Bolivien habe mehr als andere unter Krieg, Rückständigkeit, Abhängigkeit und Instabilität gelitten. Die Zeit des Wandels für alle Bolivianer sei gekommen, die Zeit, aus Bolivien ein beispielhaftes Land zu machen.