„Europa steht an einer Wegscheide“

■ Interview mit Jacek Kuron, Mitorganisator des Marsches und polnischer Sozialminister

taz: Herr Kuron, Sie sind zusammen mit einem großen Konvoi mit Hilfsgütern, einigen hundert Polen, unter ihnen Marek Edelmann, der letzte Überlebende des Warschauer Gettos, sowie Adam Michnik und andere Prominente nach Kroatien gekommen, um nach Sarajevo zu gelangen. Die Parole der Demonstration ist „Frieden jetzt“. Warum?

Jacek Kuron: Wir sind nicht gekommen, um lediglich zu demonstrieren. Ich nämlich habe Angst vor leeren Gesten – ich lehne sie ab. Deswegen haben wir einen Konvoi zusammengestellt, der auch humanitäre Hilfe transportiert. Es geht bei dieser Aktion um die konkrete und die symbolische Hilfe. Wir haben während des Kriegsrechts in Polen, also Anfang der achtziger Jahre, die Erfahrung gemacht, daß humanitäre Hilfe durchaus politisch ist, daß sie in einem politischen Kontext steht. Es war für uns ein Zeichen von Solidarität. Unpolitische Gesten gibt es nicht. Wir wollen, daß die Menschenrechte geschützt werden, daß die Weltgemeinschaft aktiv wird. „Frieden jetzt“ soll keine leere Parole sein. Alle Seiten wollen den Frieden haben, aber es kommt darauf an, wie sie ihn definieren. Auch Frankreich wollte 1940 Frieden um jeden Preis – und Hitler diktierte ihn.

„Frieden jetzt“ ist also eine abstrakte Parole?

Es geht nicht um einen abstrakten Frieden; es muß ein gerechter Frieden sein. Frieden für alle, dies ist mein Credo. Ich habe schon gesagt, daß es unterschiedliche Interpretationen gibt. Die französische Organisation „Equi libre“, die diese Aktion gestartet hat, will lediglich humanitäre Hilfe ohne politische Implikationen. Das ist aber nicht möglich. Sarajevo ist nämlich auch ein Symbol, es ist ein Symbol für das Zusammenleben vieler Kulturen. Der Stadt humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, bedeutet meiner Ansicht nach auch, für diesen konkreten Pluralismus zu demonstrieren.

In diesem Krieg sind viele Verbrechen geschehen, es ist ein neuer Faschismus sichtbar geworden, den viele so nicht mehr für möglich hielten.

Europa ist an einer Wegscheide angekommen. Mit dem Zusammenbruch eines der beiden großen Blöcke in der Weltpolitik ist eine Epoche zu Ende gegangen. Auch der andere Block existiert nicht mehr. Dabei ist ein politisches Vakuum entstanden. Früher wurde in Washington oder in Moskau verhandelt, das war dann Politik. Heute ist dies anders, es gibt keinen klaren Rahmen mehr, deshalb können in diesem Vakuum einige Fanatiker ihre Politik machen. Wir müssen demgegenüber die Menschenrechte verteidigen. Wir brauchen die Zusammenarbeit, den Pluralismus, die Toleranz. Gelingt es nicht, diese Kategorien geltend zu machen, wird unsere Welt „balkanisch“ sein. Wir müssen die Freiheit verteidigen; nur wenn wir für die Freiheit kämpfen, vermeiden wir den Krieg. Wie in jeder Gesellschaft bedarf es auch in der Weltgemeinschaft bestimmter Mechanismen, um das Recht durchzusetzen. Wie in jeder Gesellschaft bedarf es der Weltpolizei.

Aber bisher nimmt die Welt diese Verantwortung nicht wahr.

Die Vereinten Nationen müssen diese Rolle übernehmen. Wenn sie es nicht tun, müssen sie jemanden beauftragen, sie zu übernehmen. Gespräch: Erich Rathfelder, Split