Haßt Monologe, adelt, hat Ensemblegeist

In Salzburg liegt Leander Haußmanns „Antigone“ knapp vor Jürgen Kruses „Sieben gegen Theben“.  ■ Von Arnd Wesemann

Die Salzburger Feste erreichten soeben ihren Höhepunkt. Der griechische Agon, der Wettkampf um die beste Inszenierung, hat sich zugunsten von Leander Haußmann (Berlin/München) mit Sophokles' „Antigone“ entschieden, gefolgt von Peter Sellars (New York) mit „Die Perser“ von Aischylos (wir berichteten). Auf den dritten Rang konnte sich Jürgen Kruse (Frankfurt) mit „Sieben gegen Theben“, ebenfalls von Aischylos, plazieren. Die Theaterjugend mißt sich in Salzburgs Olympia am Antiken.

Nur knapp entgingen der Erst- und der Drittplazierte der Disqualifikation. Die Ähnlichkeit ihres Themas ermunterte sie zu frecher Zusammenarbeit. Allein die verschiedene Qualität ihrer Arbeit trennte sie wieder. Kruses „Sieben gegen Theben“ zeigt eine eingeschlossene Stadt. Heftig rumst es an den Stadttoren, während auf der Bühne Rote-Bete-Saft in Strömen fließt. Theben wird belagert. Verteidiger und Angreifer sind Brüder. Beide fallen. Großes Wehklagen. So das Stück von Aischylos. Sophokles' „Antigone“ wechselt mit Haußmann vor das Stadttor, öffnet den Raum, kaum ein Tropfen Blut mehr auf dem Kriegshof, allmählich senkt sich der Staub der Schlacht. König Kreon läßt nur einen der beiden gefallenen Brüder beerdigen, den anderen den Geiern zum Fraß vorwerfen. Schwester Antigone beerdigt auch den zweiten. Kreon läßt sie zur Strafe einmauern. Als Kreon von seinem Befehl abläßt, reumütig, ist alles zu spät, Antigone und sein eigener Sohn Haimon sind tot. Großes Wehklagen.

Der altgriechische Agon hatte zwischen beiden Stücken 25 Jahre Zeit gelassen, erst „Sieben gegen Theben“ uraufgeführt, dann, eine Generation später, „Antigone“. Heute passen beide Stücke wie ein Ödipus-Orakel, wie zwei Rätselteile aneinander. Eine Bühne für beide reicht, in einer Halle weit vor Salzburgs Toren, dort, wo die Jugend sich in vorgelagerter Provinz bewähren darf. Außerhalb der Reichweite von Onkel Peter Stein spielt der Stein-Schüler Jürgen Kruse „Theben“ in einer Mauerecke, der Theater-Walt-Disney Leander Haußmann „Antigone“ vor dem Notausgang zum Hof.

Aus der Mauer greift eine steinerne Faust, durch die Wand ist ein Mensch gebrochen, im Himmel fliegen kleine Flugzeuge. Ein Podest für „Sieben gegen Theben“ rankt sich auf sieben Stufen zu einem Sims empor. Obendrauf macht Wolfram Koch mit Krallfüßen am Schuhwerk gute Figur als Eteokles. Der Mann brüllt, steckt Schraube samt Mutter ebenso wie drei Lanzen den Mädels untern Rock. Eleonore Zetzsche als Chorführerin ist ganz starr vor Sorge und wird auf ihrer Treppenstufe so lange schluchzen, bis das Stück vorüber ist. Die übrige Bande von Hospitanten, Dramaturginnen, Assistentinnen, die noch nie im Leben Schauspielerinnen gewesen sein können, spielen zu Anfang Haschischfete, dann müssen sie aufpassen, wie Kruse inszeniert: Etwas gelangweilt, etwas schulmädchenhaft streunen sie über die Bühne, entspinnen ein Baumwollband und spielen Chor. Wolfram Koch ist einsam. Die Frauen sind ihm nur Spielzeug. Allein ein Bote, Jürgen Rohe, gibt ihm einen ausgezeichneten Widerpart. Doch währt's nicht lange, da verhungert Wolfram Koch zum zweiten Mal: Der Bote ist von einer Lanze durchbohrt und spielt Bote, von einer Lanze durchbohrt, ein sterbender Held, der noch sehr viele Verse vor sich hat, darüber aber wieder genesen wird. Und dann warten beide, bis die Mädels ihren Part ausgesungen und ihr Garn ganz und gar ausgesponnen haben. Da dies aber kein Ende nimmt, fahren beide freiwillig in den Hades.

Ein riesiges Pendel über dem Notausgang schwankt bedrohlich, wann immer es im Stück bedrohlich wird. Eine unsichtbare Riesenfaust trommelt an die Stadttore, ein blutgetränktes Schwämmchen, ein Herz auf der Bühnenmitte, wird gedrückt und gerieben, leblos bleibt es trotzdem, Kruse macht sein berühmtes „Leck mich“- Theater, aufgerieben von Dilettantismus. Eschberg hat ihm aus Frankfurt kaum gutes Personal mitgegeben, da schielt Kruse bereits verlegen zum großen Könner, auf Leander Haußmann. Kruse hat gerade mal dessen Vorspiel inszeniert. Haußmann rückt zunächst das Bühnenpodest gerade, beschäftigt einen Chor richtiger Schauspieler und erhebt dann Kruses Pendel als schwangeres Beiwerk zur raumgreifenden Bedrohung. Noch einmal nutzen Antigone und ihre völlig verrückte Schwester Ismene (Karla Trippel) Kruses Turnbühne, um das lange Vorspiel der „Antigone“, auf ganze fünf Sätze gekürzt, daherzusagen. Zuschauer gehen darob beleidigt, doch jetzt geht es endlich los – beginnt echtes Theater; Haußmanns Haus-Spezialitäten leuchten auf:

– Haußmann haßt Monologe. Weihevoll-langwierige Antigone-Ergüsse bleiben fort. Statt dessen erscheint eine Steffi Kühnert, deren Augen blitzen, deren Ausstrahlung die letzte Reihe ergreift. Sie führt zwischen ehrlicher Angst, Rührung und Regung die Spiellaune einer Tragödin mit sich, die, statt zu deklamieren, lieber Bäume ausreißt. Über Steffi Kühnert ist gnadenlos zu schwärmen, wüßte der Rezensent nicht, wieviel Platz ihm zur Verfügung steht. Kurz also: Schauspielerin des Jahres.

– Haußmann haßt Buchstaben- gläubigkeit. Ein Faß von Mann, Peter Paulhofer als Seher Teiresias, schlendert durch die Szene, daß die Erde dampft. Er spricht alle Sprachen und macht Gebrauch davon. Dazu erschallt: „This ist the end, my friend.“ Ein Baum zum Ausreißen.

– Haußmann liebt rührende Filme. Der Wachtmann heißt Stephan Baumecker, der so liebevoll schüchtern, vertrottelt nervös, so jenseitig aller Klischees über die Beerdigung des den Geiern empfohlenen Kriegers stottert, als gingen draußen in der Wüste Bäume spazieren.

– Haußmann adelt. Margit Carstensen als König Kreon ist der Adel unter den Schauspielern. So oft ich sie sah – erst bei Haußmann wird aus ihr wieder die große Schauspielerin und nicht so ein Knickebäumchen, das untergehen soll, um andere nicht an die Wand zu spielen.

– Haußmann liebt die Schauspieler. Gerald Fiedler als Haimon hat nichts anderes zu tun, als schöne Augen zu machen. Prompt fällt das Publikum drauf rein. Der Mann ist eine Verführungsmaschine, der giftige, leuchtende Pilz unter den Bäumen.

– Haußmann hat Ensemblegeist. Vier Herren, der Chor, sind das Geheimnis der Inszenierung. Sie spielen den Wald, durch den man die Bäume erst sieht und nicht müde wird, sie zu betrachten.

Leander Haußmanns Talente sind ungeheuer, selbst wenn sie sich wiederholen. Haußmann, Deutschlands Klein-Peter-Stein der Generation um 30, hat den ersten Preis verdient. Er läßt den Schauspielern den Vortritt. Eine lange Tafel steht in der Raummitte, vorne agiert auf einem Stuhl, wer etwas zu sagen hat, dazwischen fließt Alkohol, spritzt Blut, hinten regnet es, seitwärts ist die Wüste in ein Terrarium gepackt, dahinter der Notausgang, der den Blick auf den Hof freigibt, der den Blick – Haußmanns Bühnenbildner Bernhard Klebers Spezialität – unvermittelt von den an der Rampe Agierenden in weiteste Ferne rückt und den Rezensenten entrücken läßt. Verzeiht.