: Lustvoll die Kurve kriegen
■ Gespräch mit dem Psychoanalytiker Micha Hilgers über Wege ohne Auto
taz: Herr Hilgers, alle stöhnen über die Verkehrslawine und sind für drastische Maßnahmen. Trotzdem läuft die Entwicklung mit Vollgas weiter. Wie erklärt sich diese Schizophrenie?
Micha Hilgers: Ich würde es nicht als Schizophrenie bezeichnen, sondern als Ambivalenz. Es geht einerseits darum, daß immer mehr Bürger unter den Folgen des Verkehrs leiden; auf der anderen Seite geht es um persönliche Mobilität und um das Gefühl, mobil sein zu können. Das Auto hat eine Symbolfunktion – selbst wenn man im Stau steckt, bleibt sie erhalten.
Gerade Politiker beten den Fetisch Auto inbrünstig an.
Ja, wir wissen aus Untersuchungen, daß Politiker häufig die Einstellung der Bevölkerung falsch einschätzen – umgekehrt die Bevölkerung aber merkt, daß Politiker eben weit stärker auf das Auto setzen, als sie selber es wünscht. Das heißt, die Politiker befinden sich da häufig auf einem Holzweg.
In Kassel allerdings soll die SPD gerade wegen ihrer Verkehrsberuhigungspolitik eine böse Schlappe erlitten haben.
Nicht unbedingt wegen der tatsächlichen verkehrspolitischen Maßnahmen, sondern insbesondere darum, wie man sie verkauft hat. Wenn man Autofahrer als blöde beschimpft, wenn man Anzeigen schaltet, „Nur Dumme rasen“, dann gibt's am Wahltag eben ganz viele „Dumme“, die zum Stimmzettel rasen und ein bestimmtes Kreuz machen... In Aachen haben wir ganz andere Erfahrungen machen können. Hier wurde eine fußgängerfreundliche Innenstadtzone für die Samstagseinkaufszeit erst einmal probeweise eingeführt. Wir werden dann wieder Befragungen machen, wie es ankommt. Und bislang haben wir in der Tat enorme Zustimmung gefunden. Sie liegt bei 90 Prozent der Besucher und bei etwa 80 Prozent der Bewohner der Stadt.
Sie warnen davor, den Autofahrern mit dem langen moralischen Zeigefinger zu kommen. Statt dessen sollten die öffentlichen Verkehrsmittel lieber positiv für ein „neues Lebensgefühl“ werben und ihren „Lustcharakter“ betonen. Finden Sie denn, daß das derzeitige Angebot dazu angetan ist?
Leider oft nicht. Wenn man zum Beispiel sieht, daß öffentliche Verkehrsmittel nicht die Möglichkeit bieten, Freizeitgerät mitzunehmen, etwa Surfbretter zum Baggersee, etwa Mountainbikes und Fahrräder, dann muß man sich nicht wundern, wenn der Freizeitverkehr – und der macht ja den überwiegenden Teil unseres Individualverkehrs aus – weiter mit dem privaten PKW stattfindet. Das könnte man aber ändern. Wenn man attraktivere, bedarfsorientierte Angebote schafft, Kneipenbusse oder Baggerseebusse, dann werden sie auch genutzt!
Trotzdem: Die Fixierung aufs Auto ist ziemlich hartnäckig.
Es geht um ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Die Imageverbesserung des öffentlichen Nahverkehrs ist sicher nur eine davon. Es geht zum Beispiel auch um Maßnahmen, die es ein Stück weit überflüssig machen würden, aus den Städten zu fliehen. Man muß sich doch fragen: Was ist eigentlich mit unseren Städten los, wenn uns nichts anderes einfällt, als mit dem Auto vor dem Auto zu fliehen?
Könnten Sie sich vorstellen, Ihr Auto heute abzuschaffen?
Es geht nicht darum, daß wir jetzt in wallenden Gewändern und Jesuslatschen „Kehret um!“ rufen, sondern daß man das Auto in seiner Funktion zurückdrängt, es überflüssiger macht. Und wenn Sie mich jetzt persönlich fragen, der ich auf dem Lande lebe, mit einem äußerst dünnen öffentlichen Verkehrsnetz, dann muß ich Ihnen sagen: Im Moment würde das für mich den finanziellen Ruin bedeuten. Obwohl ich es absolut blöde finde, des Morgens, statt im Bus zu lesen oder zu flirten, allein im Auto zu sitzen. Interview: Olaf Cless
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